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Sidney Goldin (1880–1937)

Nicolas WOLFINGER

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Der jiddische Film war, wie auch das jiddische Theater, immer ein Nischenprogramm. Seine Sprache schränkte ihn grundsätzlich nicht nur auf ein jüdisches, sondern auch auf ein jiddisch sprechendes Publikum ein.
Ähnlich dem jiddischen Theater spielte sich das jiddische Filmschaffen, das sich um 1910 als eigenes Genre zu entwickeln begann, in jenen wenigen Gebieten ab, in denen sich die jiddische Kultur konzentrierte. Bedeutende Zentren waren Vilna, Warschau und New York, in geringerem Ausmass durch jiddischsprachige Zuwanderung aus dem Osten auch Wien, Paris und London. Das wichtigste und dauerhafteste Zentrum der jiddischen Kultur war jedoch New York, seit jeher Ziel jüdischer Emigranten. Dort erlebte die Blütezeit des jiddischen Films assimilationsbedingt in den 1960er Jahren ihr Ende.

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Sidney Goldin. Quelle: Zalmen Zylbercwaig, Lexicon of the Yiddish Theatre, 1931. Mit freundlicher Genehmigung N. Wolfinger.

Wien hingegen war nie ein bedeutendes Zentrum jiddischer Kultur. Obwohl Wien mit über 200.000 Juden im Jahr 1923 nach Warschau und Budapest die drittgrösste jüdische Gemeinschaft Europas darstellte, beherrschte nur etwa ein Viertel der jüdischen Einwohner das Jiddische - die meisten davon lebten auf der Mazzesinsel, in der Leopoldstadt, wo bis 1938 auch mehrere jiddische Bühnen bestanden.1 International bedeutsamer dürfte jedoch das vielfältige jüdische Filmschaffen in der kurzen Zeitspanne von 1918 bis 1925, als sich die österreichische Stummfilmproduktion auf ihrem Höhepunkt befand, gewesen sein. Im Standardwerk zum jiddischen Film, Jim Hobermans Bridge of Light (1995) ist der jüdischen Filmproduktion in Wien ein ganzes Kapitel gewidmet. Dennoch ist die Erforschung des jüdischen Filmschaffens in Österreich nach wie vor äusserst unvollständig.

In dieser Zeit - von 1921 bis 1924 - weilte auch der (retrospektiv betrachtet) neben Joseph Seiden bedeutendste und produktivste Akteur des jiddischen Films, Sidney Goldin, in Wien. Doch auch seine Biografie ist unvollständig und mitunter fehlerhaft. Goldin wurde am 24. März 1880 in Odessa als Samuel Goldstein, Sohn eines Kaufmanns, geboren.2 Schon bald emigrierte die Familie nach New York - möglicherweise als Folge der Pogrome von 18813 und der antijüdischen Maigesetze von 1882 im Russischen Reich. Goldin besuchte eine öffentliche Schule und verschaffte sich als Zeitungsjunge etwas Taschengeld. Er interessierte sich früh fürs Theater und trat erstmals 1895 in Baltimore in einem jiddischen Theaterstück von Sheingold (gemeint ist möglicherweise der jiddische Theater-Pionier Abba Schöngold) auf.4 Laut Hoberman übersiedelte Goldin, der dem Theaterschauspiel einige Jahre treu blieb, bald darauf nach Chicago, wo er noch einige Jahre Schauspielerfahrung sammelte und schliesslich bei der 1907 gegründeten Filmgesellschaft Essanay von 1910 bis 1912 seine ersten Filmauftritte absolvierte. Möglicherweise aber auch schon früher, da Goldin laut einem Interview in Wien 1924 zitiert wird, „seit etwa 20 Jahren in der Filmindustrie"5 zu arbeiten - nicht zwangsläufig eine Übertreibung. Faktum ist, dass Goldin 1912 nach New York zurückkehrte und als einer der ersten unabhängigen Regisseure ins Filmgeschäft einstieg. Er produzierte erfolgreich mehrere Kriminalfilme, bevor er 1913 gleich fünf Filme mit spezifisch jüdischer Thematik herstellte - und sich damit beinahe über Nacht zum ersten auf jüdische Inhalte spezialisierten Filmregisseur machte. Die Filme knüpfen zum einen an Pogrom-Dramen des jiddischen Theaters an (The Sorrows of Israel), erzählen vom Leben an der Lower Eastside (The Heart of a Jewess), stellen die Identitätsfrage der jüdischen Immigranten ins Zentrum (Nihilist Vengeance) oder ziehen historische Vergleiche zwischen dem mittelalterlichen Polen und dem New York der Gegenwart als Häfen der Sicherheit vor Verfolgung.6 Die Filme erhielten überwiegend positive Kritiken. So zeigte sich etwa die Moving Picture World begeistert von der Authentizität der in der Lower Eastside spielenden Erzählung, The Heart of the Jewess: Es sei eine Freude,

„jüdische Schauspieler hebräische Rollen voll Humor und Sympathie spielen zu sehen, besonders nach den widerlichen Karikaturen, die Vaudeville-Besucher jahrelang beleidigt haben".7

Bereits an diesen ersten Werken ist eine grosse inhaltliche, genreübergreifende Vielfalt im Umgang mit jüdischen Themen zu erkennen - eine Konstante in Goldins Filmschaffen, ebenso wie seine authentischen Milieu-Darstellungen und facettenreiche Rollengestaltungen. Die jiddische Zeitung Teater un Moving Pikshurs („Theater und Film") erklärte Goldin bereits 1914 zum „ersten und führenden Produzenten jüdischer Filme".8

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Titelbild Die Filmwelt vom 20.5.1921: Sidney Goldin und die Schauspielerin Magda Sonja. Quelle: Filmwelt, Nr. 1, 1921. Mit freundlicher Genehmigung N. Wolfinger.

Goldin produzierte weiterhin auch nicht-jüdische Stoffe und liess sich nach dem Ersten Weltkrieg für einige Jahre in Europa nieder, um Filme in London, Paris und Prag zu produzieren, bevor er schliesslich 1921 Wien erreichte, das für drei Jahre zu seinem Lebensmittelpunkt wurde. Hier, im Nachkriegsösterreich, wurde er feierlich empfangen:

„[...] schon auf der Strasse [sah ich] die Menschen dem Atelier zueilen und in den Mienen Spannung und Erregung [...] die sich in aller Munde zu einer Frage formte: ‚Ich bin schon gespannt, was der Amerikaner machen wird!‘ Der Amerikaner, das war nämlich Mister Sidney Goldin, der erste amerikanische Regisseur, der in einem Wiener Atelier mit Wiener Künstlern arbeitet, um im Dollarlande zeigen zu können, dass wir armen Deutschösterreicher noch zu etwas zu gebrauchen sind!"

 

Über seine Arbeitsweise berichtet ein Schauspieler weiter:

„Mit einer Güte, einer liebevoll väterlichen Geduld, einer Ruhe, spielt er seinen Künstlern vor, er, der nur wenige Worte deutsch spricht, überträgt mit einem unglaublichen künstlerischen Feingefühl sein Fühlen und Wollen auf seine Schauspieler und technischen Mitarbeiter und wir alle, auch manch zusehender Regisseur, waren gerne seine Schüler."9

Die Dreharbeiten, von denen hier die Rede ist, waren jene zu Ihre Vergangenheit, einem Melodram. Im nächsten Film, Hütet Eure Töchter (1922), ein in New York angesiedeltes Sittendrama, spielte erstmals die noch junge, aus New York mitgereiste Mali („Molly") Picon, wenige Jahre später Star der Yiddish Art Company in New York und Liebling des jiddischen Theaters, unter seiner Regie. Filmkritiken loben die „straffe Regie" und dramaturgische Stärke des Films, betonen aber gleichzeitig „die vornehme Wiener Note" in der Darstellung.10

In einem „Gespräch" zwischen ihm, „der im persönlichen Verkehr ein sehr liebenswürdiger und humorvoller Mensch ist" und einer Redakteurin der Filmwelt kommt zum Vorschein, dass sich Goldin in Wien rasch eingelebt haben dürfte. Als Ort des Interviews wird der Goldintisch angegeben, „denn so heisst sein Stammtisch im Café Payr"11. In einem anderen Interview, ein Jahr später, wird Goldin zitiert, er sei von Wien „ehrlich entzückt" und habe hier „zahlreiche Freunde".12

Nach dem Drama Führe uns nicht in Versuchung (1922) erscheint Goldins wohl bekanntester und erfolgreichster Film aus der Stummfilmzeit: Ost und West (1923) erzählt auf unterhaltsame Weise vom Zusammenprall der Kulturen: Ein assimiliertes New Yorker „Judenmädel" trifft bei einem Verwandtschaftsbesuch in Polen auf die osteuropäische Orthodoxie. Das Werk stellt den Höhepunkt der Symbiose von New Yorker Film- und Schauspielkunst und Wiener Filmschaffen dar. Es spielt die halbe Yiddish Art Company um Molly Picon und Jacob Kalich aus New York, Drehbuch (Eugen Preiss), Szenenbild (Artur Berger) sowie die übrigen Schauspieler (vielfach von der Freien Jüdischen Volksbühne) und Mitwirkenden stammten aus Wien. Goldin - und mit ihm die beteiligte Wiener Filmszene - feierte mit diesem Film einen internationalen Erfolg, Inserate bewarben das Werk als „grossen jüdischen Film". Goldin kehrte für einige Monate in die Vereinigten Staaten zurück, „Die Filmwelt" berichtete währenddessen, er sei „an einem schweren Herzleiden erkrankt" - ein böses Omen.13

Goldin kam im Mai 1924 zum vermutlich letzten Mal für längere Zeit nach Wien. Er stellte das Drama Jiskor mit dem aus New York mitgereisten Hauptdarsteller Maurice Schwartz her. Aus dem ebenfalls geplanten Gebrochene Herzen dürfte jedoch nichts mehr geworden sein - Schwartz stellte einen gleichlautenden Film zwei Jahre später in New York her.14 Auch aus der Rückkehr von Picon und Kalich, um eine Fortsetzung herzustellen, wurde nichts mehr - laut Hoberman hielt sie ihr überwältigender Erfolg an den jiddischen Bühnen New Yorks davon ab. Goldin reiste im Oktober 1924 nach Warschau, um einen Film herzustellen (von dem nichts überliefert ist) - kehrte aber bereits Ende November nach Wien zurück, um die junge Schauspielerin der Freien Jüdischen Volksbühne, Betty Gärtner, zu heiraten15 (bei Hoberman lediglich als Hauptdarstellerin in Goldins Film East Side Sadie erwähnt, als seine Tochter „Bertina Goldin"). Im selben Artikel wird auch erwähnt, dass diese in Goldins jüngstem in Wien fertiggestellten Lustspiel Mojsche Pipik, der Graf mitgespielt haben soll.16 Auch von diesem Werk ist nichts überliefert. Goldin dürfte bald darauf dauerhaft nach New York zurückgekehrt sein, um sich fünf Jahre lang ausschliesslich der Schauspielerei zu widmen, bevor er 1929 mit der Produktion von East Side Sadie, dem ersten jiddischen Tonfilm (mit Betty Gärtner, nun Goldin, in der Hauptrolle) seine Regietätigkeit fortsetzte. Goldin erlebte nun die erfolgreichsten Jahre seiner Karriere und stellte etwa zwei Dutzend jiddische Tonfilme her, darunter ein Remake von Jiskor. Er starb 1937, viel zu früh, an seiner Herzerkrankung.

1   Vgl. Brigitte Dalinger: Verloschene Sterne. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Picus Verlag: Wien 1998.

2    Zalmen Zylbercwaig: Lexicon of the Yiddish Theatre, Volume 1, New York 1931, S. 209.

3  Yehuda Slutsky: Pogroms, Jewish Virtual Library 2008 (http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0016_0_15895.html)

4   wie Anm. 2.

5    Der Filmbote, Nr. 22, 31. Mai 1924, S. 15.

6   Jim Hoberman: Bridge of Light. Philadelphia: Temple University Press 1995.

7   Moving Picture World, 1913, zitiert nach Jim Hoberman, 1995, S. 32.

8    Teater un Moving Pikshurs, 1914, zitiert nach Jim Hoberman, 1995, S. 34.

9    Die Filmwelt, Nr. 10, 20. Mai 1921, S. 3f.

10  Das Kino-Journal, Nr. 610, 25. Februar 1922, S. 10f.

11   Die Filmwelt, Nr. 8, 1922, S. 7.

12   Der Filmbote, Nr. 22, 31. Mai 1924, S. 15.

13   Die Filmwelt, Nr. 16, 3. August 1923, S. 14.

14   Die Filmwelt, Nr. 20, 16. Mai 1924, S. 11.

15   Vgl. auch Zalmen Zylbercwaig, 1931, S. 500.

16    Die Filmwelt, Nr. 34, 28. November 1924, S. 2.