Das Grazer Stadtmuseum zeigt in diesem Jahr die einzigartige Ausstellung Jüdische Portraits von Herlinde Koelbl, in der die Fotografin prominente deutschsprachige Jüdinnen und Juden portraitiert hat, die die Shoah überlebt haben. Das Foto- und Interviewprojekt stammt ursprünglich aus dem Jahre 1989 und hat somit mittlerweile selbst historische Bedeutung erlangt.
Erich Fried. Foto: Herlinde Koelbl. Mit freundlicher Genehmigung Stadtmuseum Graz.
Zehn Jahre nach der Wiedererrichtung der Grazer Synagoge werden in drei Sälen des Stadtmuseums insgesamt 37 Portraits gezeigt, denen markante Zitate der jeweilig Dargestellten beigestellt sind. Herlinde Koelbl hat für ihr Projekt insgesamt achtzig jüdische Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur fotografiert und inter-viewt, von denen heute nur noch ein Drittel lebt. Die meisten von ihnen sind in jenen Ländern geblieben, in denen sie vor den Nationalsozialisten Zuflucht gefunden hatten. Nur wenige kehrten nach Deutschland und Österreich zurück. Die Auswahl für die Grazer Ausstellung traf die Fotografin gemeinsam mit Museumsdirektor Otto Hochreiter. Unter den Portraitierten finden sich die Namen von Uri Averny (Journalist und Politiker), Bruno Bettelheim (Kinder- und Sozialpsychologe), Erich Fried (Schriftsteller), Heinz Galinski (ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Berlin), Stefan Heym (Schriftsteller), Robert Jungk (Schriftsteller und Futurologe), Theodor Kollek (Bürgermeister von Jerusalem), Bruno Kreisky (Bundeskanzler von Österreich), Erika Landau (Psychotherapeutin), Sir Karl Popper (Philosoph), Marcel Reich-Ranicki (Literaturkritiker), George Tabori (Schriftsteller und Regisseur), Grete Weil (Schriftstellerin) und Simon Wiesenthal (Leiter des Dokumentationszentrums Bund jüdischer Verfolgter des Nationalsozialismus).
Die Arbeiten überzeugen durch ihre schlichte Ästhetik. Die eindrucksvollen Fotografien wirken wie spontane Aufnahmen, da die Dargestellten so wenig wie möglich inszeniert abgelichtet wurden. Die Bilder erzählen ein Stück Realität und sind in Kombination mit den Interviewtexten einzigartige Zeugnisse individueller Schicksale und Lebenserfahrungen. Die Fotokünstlerin nimmt sich Zeit für jede und jeden, den sie portraitiert. Sie versteht es meisterhaft, den Menschen „ihre Masken" abzunehmen und setzt der Oberflächlichkeit Tiefe entgegen. „Ein gutes Foto muss Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich tragen, es muss über den Moment hinausweisen, in dem es entstanden ist", erklärt Koelbl. Da es bei den Interviews auch um persönliche Erfahrungen geht, unterstreichen die ungestellten und lebensnahen Aufnahmen die Aussagekraft der Zitate. Beim Rundgang von Bild zu Bild erfährt der Besucher viel über die subjektiven Erfahrungen und Einstellungen der Persönlichkeiten. Der Themenbogen spannt sich von der Frage nach Heimat über das jüdische Schicksal während des Holocaust bis hin zur Situation in Israel und der Diaspora. Mit grösster Sensibilität spricht Koelbl mit ihren Interviewpartnern über deren Kindheit, Familie, Religiosität und geht der Frage nach, ob es nach Meinung der Portraitierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben habe. Die Antworten auf die gestellten Fragen fallen naturgemäss sehr unterschiedlich aus. Besonders wenn der Begriff Heimat zur Sprache kommt, divergieren die Antworten stark. Die Wenigen, die nach Österreich oder Deutschland zurückkehrten, beschreiben diese Länder als ihre „Herzensheimat" oder als „Heimat ihrer Sprache und Kultur". Für die vielen, die etwa in den USA oder Palästina/Israel ihre neue Heimat fanden, stellten ihre ursprünglichen Heimatländer, in denen sie so viel Leid erfahren hatten, keine realistische Option für ein zukünftiges Leben dar. Im Interview mit Bruno Bettelheim stellt dieser Herlinde Koelbl die entscheidende Frage: Was ist der Zweck ihres Buches? Darauf antwortet die Fotografin, der Sinn ihrer Arbeit liege darin, „zu zeigen, wen die Deutschen eigentlich vertrieben haben. Viele wollen das ja nicht mehr wahrnehmen und viele wissen davon gar nichts." Damit erklärt sie kurz und prägnant die Intention ihres Projektes. Eine kurze Beschreibung, die die Besucher zu Beginn der Ausstellung im mittleren Saal erwartet, fasst den Inhalt zusammen:
„Die kulturellen Leistungen, die das Zusammentreffen der jüdischen mit der deutschen Kultur auslöste, stehen in der europäischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts an herausragender Stelle. 1933 fand diese Periode eines reichen intellektuellen und geistigen Lebens mit dem Beginn der Nazi-Herrschaft ein jähes und brutales Ende. Nur wenige sind in die Bundesrepublik Deutschland und nach Österreich zurückgekehrt. Herlinde Koelbl sprach mit ihnen über ihr Verständnis von jüdischer Tradition, Religion und Heimat. Sie fragte nach ihrem Verständnis zu Israel, dem heutigen Deutschland und Österreich und zeichnete persönliche Erinnerungen auf. In diesen Gesprächssituationen entstanden die sehr persönlichen Portraits."
Roberkt Junk. Foto: Herlinde Koelbl. Mit freundlicher Genehmigung Stadtmuseum Graz.
Der optische Eindruck, den man beim Gang durch die Ausstellung gewinnt, ist besonders stark. Die lebensgrossen Fotografien scheinen mit dem Besucher zu kommunizieren. Man steht den Persönlichkeiten sozusagen auf Augenhöhe gegenüber und verinnerlicht ihre Aussagen. Dieser Einblick in die intimen Lebenswelten und damit auch das Vertraut-Werden mit den subjektiven Schicksalen bekannter Menschen macht den Rundgang zu einer eindrucksvollen Erfahrung. Der „Dialog" mit den jüdischen Persönlichkeiten ist besonders für die jüngeren Generationen, die zwar in Friedenzeiten, aber in einer Gesellschaft voller Vorurteile leben, von pädagogischem Wert. Koelbl zählt zu den bekanntesten Fotografinnen Deutschlands und hat zahlreiche Bücher publiziert. Ihre eindrucksvollen Milieu- und Personenstudien hinterlassen beim Leser beziehungsweise Betrachter der Fotografien einen bleibenden Eindruck. Es gelingt ihr immer, die Schlichtheit des Alltags auf hohem künstlerischen Niveau abzulichten, wodurch sie es schafft, die Besonderheit dieser Alltagssituationen zu konkretisieren. Berühmtheit erlangte die Fotografin durch Veröffentlichungen wie Der deutsche Alltag aus dem Jahre 1980, Feine Leute (1986), Opfer (1996), Spuren der Macht (1999), Schlafzimmer (2002) und Mein Blick von 2009. Die Neuauflage der preisgekrönten Jüdischen Portraits von 1989 im heurigen Jahr ist ein brillanter Bild-Text-Band, der besonders durch die Offenheit der Gesprächspartner von Herlinde Koelbl überzeugt. Dies verleiht dem Buch auch eine besondere Dynamik, die den Interviews inhärent ist und das Lesen zu einem spannenden Erlebnis macht. Dabei ist erwähnenswert, dass der Band mit Kurzbiographien der Gesprächspartner versehen ist, was deren Einordnung in einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext erleichtert. Man erfährt, wie sie aus ihren eigenen Erlebnissen entweder Kraft schöpfen oder diese für ihren spezifischen Lebenskontext verwerten konnten.
Bruno Kreisky. Foto: Herlinde Koelbl. Mit freundlicher Genehmigung Stadtmuseum Graz.
Herlinde Koelbl: Jüdische Portraits. Neuauflage Frankfurt am Main: S. Fischer 2010.
292 Seiten, Euro 70,00.-
ISBN 978-3-10-040219-6
Herlinde Koelbl wurde am 31. Oktober 1939 in Lindau am Bodensee geboren und stiess erst 1976 als Autodidaktin zur Fotografie. Sie arbeitete unter anderem für den Stern, Die Zeit und die New York Times. Neben ihren Büchern und Ausstellungen hat sich die gelernte Modedesignerin als Dokumentarfilmerin einen Namen gemacht. Mittlerweile fotografiert und portraitiert sie seit drei Jahrzehnten Menschen. Die Fotografin hat Gastprofessuren in Hamburg, Sydney und Wien übernommen und ist mit renommierten Preisen und Auszeichnungen, wie dem Dr. Erich-Salomon-Preis, geehrt worden. Ihr Gesamtwerk ist zur Zeit im Berliner Martin-Gropius-Bau unter dem Titel „Mein Blick" zu sehen. Ihre Jüdischen Portraits wurden bereits im Jüdischen Museum Frankfurt, im Spertus Museum in Chicago und zahlreichen anderen Museen gezeigt. Die Ausstellung im Grazer Stadtmuseum kann noch bis zum 14. November von Dienstag bis Sonntag zu den Öffnungszeiten von 10 bis 18 Uhr besucht werden.
Alexander Verdnik, Doktoratsstudium der Philosophie, Dissertation am Centrum für Jüdische Studien Graz.