In einer abgelegenen Kaserne im ländlichen Galiläa fungiert die israelische Armee als Anlaufstation vor dem sozialen Abstieg. Kriminelle und abgeschobene Jugendliche bekommen hier ihre letzte Chance, sich gesellschaftlich zu integrieren und ein normales Leben zu führen.
In mehr als zwanzig Jahren Wehrdienst hat Oberstleutnant Ras Karni viele Gefechte überlebt: Er kämpfte in zwei Intifadas und verlor Kameraden in Einsätzen gegen die Hisbollah im Zweiten Libanonkrieg. Aber nichts hat ihn auf das vorbereitet, was er „die wichtigste Schlacht meines Lebens" nennt. Weit von Israels Grenzen, auf einem idyllischen Hügel unweit des Sees Genezareth, gebietet Karni über die abgesonderte Kaserne Havat Hashomer, heute eine Rettungsinsel für sozial schwache Teenager. Hier bietet Karni seinen problematischen und oft kriminellen Rekruten die Option, wieder Teil ihrer Gesellschaft zu werden.
Der muskulöse Soldat mit den stahlblauen Augen erweckt anfangs nicht den Eindruck eines militärischen Sozialarbeiters. Als Sohn des Kommandeurs einer prestigeträchtigen Kampfeinheit wäre es für den ehemaligen Kibbutznik wohl naheliegender gewesen, eine Karriere auf dem Schlachtfeld zu verfolgen. Aber nachdem Karni ins Erziehungscorps der Armee versetzt wurde, entdeckte er eine neue Front:
„Ich machte Hausbesuche bei meinen Soldaten und sah erstmals Israels Hinterhof. Ich war schockiert",
sagt Karni.
„Wir sind einer von nur fünf Staaten, die Satelliten ins Weltall schiessen, aber fünf Fahrtminuten von jedem Ort in Israel entfernt wohnt ein Kind, das nichts zu essen hat."
Laut offiziellen Erhebungen lebt jedes dritte Kind in Israel unterhalb der Armutsgrenze. Immer mehr Jugendliche werden Opfer von Kürzungen im einst allumfassenden Sozialsystem und geraten in den Sog von Armut, Drogen und Verbrechen.
Oberstleutnant Ras Karni. Foto: G. Yaron.
Die meisten der rund 120 Rekruten, die in Karnis Kaserne im Gleichschritt zum Mittagessen marschieren, sollten eigentlich gar nicht eingezogen werden: „Die Armee braucht diese Männer nicht", sagt Karni. Etwa 70% seiner Rekruten sind vorbestraft:
„Viele von ihnen waren für die Mafia tätig. Ich muss schon zugeben, dass ich nicht immer gut schlafe, nachdem wir ihnen Waffen ausgehändigt haben",
sagt Karni und schmunzelt. Rund ein Drittel der Männer in Havat Hashomer hat schwere wirtschaftliche oder psychologische Probleme:
„Arm zu sein hat nur bedingt mit dem Geld zu tun, über das man verfügt. Armut ist ein Geisteszustand",
sagt Karni.
„Wenn man einen normalen Teenager fragt, was seine Pläne sind, wird er von seinen Lebensträumen erzählen. Bei armen Menschen hat man schon Glück, wenn sie wissen, was sie in der nächsten Stunde anfangen wollen."
Elior Sikvaschwilis Karriere als Schwerverbrecher schien vorgezeichnet:
„Meine Eltern liessen sich scheiden, als ich noch klein war. Meine Mutter brachte unsere Familie allein durch",
sagt er.
Die Mutter zog nach Jaffa, in einen verarmten, mehrheitlich arabischen Stadtteil Tel Avivs: „Ich knackte Autos und rauchte Drogen. Wir kannten die Polizeistation recht gut", sagt Sikvaschwili mit einem trockenen Lächeln. Der mittlerweile 19 Jahre alte Rekrut wollte nicht zur Armee:
„Die meisten meiner Freunde waren Araber und deswegen nicht sehr gut auf die Armee zu sprechen. Ich ging auch nie zur Schule. Wofür auch?"
In Havat Hashomer wurde Sikvaschwili beinahe aus dem Dienst entlassen:
„Ich hatte zu viele Klassen verpasst. Ich sass im Gefängnis, weil ich morgens nicht zum Appell aufstand und weil ich andere schlug."
Doch Karni bestand darauf, Sikvaschwili noch eine Chance zu geben: „Wir haben hier ein Motto: Dank des Glaubens an den Menschen. Dazu stehe ich", sagt Karni. „Die meisten Rekruten hier haben in ihrem Leben nie etwas vollendet - bis sie zu uns kommen." Sikvaschwili wurde dem Stabsfeldwebel persönlich unterstellt, und verwandelte sich: „Die Menschen hier gaben mir das Gefühl, dass sie wirklich an mich glauben", sagt Sikvaschwili. „Das war eine neue Erfahrung für mich. Sie sind bereit, alles für mich zu tun. Niemand war jemals so für mich da." Heute hat Sikvaschwili zwei Wünsche: „Ich will so werden wie meine Vorgesetzten, und ich will das Abitur machen."
Karni stehen für seine Aufgabe nur wenig Mittel zur Verfügung. Dazu zählt ein spezielles Lagerhaus, aus dem er unbürokratisch die notwendigsten Güter aushändigen kann:
„Wir versuchen sicherzustellen, dass unsere Soldaten etwas zu essen haben, wenn wir sie am Wochenende heimschicken. Viele machen sonst absichtlich Probleme, um hier nicht weggehen zu müssen."
Im Gegensatz zum Rest der Armee wird Havat Hashomer von einer besonderen Philosophie geleitet: „In den meisten Armeen dieser Welt glaubt man, dass man zuerst den Zivilisten brechen muss, um aus ihm einen Soldat zu formen", sagt Karni.
„Aber meine Rekruten sind schon völlig zerbrochen, wenn sie herkommen. Sie brauchen Wärme und Unterstützung. Beim Eröffnungsgespräch sage ich ihnen, dass ich sie liebe, und ich meine das auch."
Die Soldaten haben gelernt, dass Karni mehr ist, als nur ein Vorgesetzter. Einmal desertierte ein Soldat. Statt die Militärpolizei auf ihn anzusetzen, besuchte Karni sein Haus. Karni war schockiert:
„Er wohnte bei seinen Eltern. Der Vater war ein Alkoholiker, der Müll von der Strasse aufsammelte, die Mutter schwer behindert und konnte sich nicht selbst versorgen. Ratten lebten im Wohnzimmer, das voll war mit Monate altem Abfall. Der Gestank war unbeschreiblich."
Die Offiziere organisierten eine Sonderaktion, um die Wohnung auszuräumen und neu zu streichen. Karni schaltete die Sozialhilfe ein. Nun schliesst der Soldat seine Grundausbildung ab. In der Armee soll er einen richtigen Beruf lernen. Aber nicht alles ist nur watteweiche Liebe: „Die-se jungen Männer sind manchmal ausser Rand und Band. Sie brauchen auch Grenzen." Die setzt Karni entschlossen. Viele seiner Schützlinge verbringen Zeit im Gefängnis.
„Die eigentlichen Helden hier sind aber meine Mitarbeiter", sagt Karni. Die Kaserne wird von zig jungen Frauen geführt, alle jünger als 21. „Fast alle unsere Offiziere sind weiblich", sagt Karni. „Die Männer fühlen sich von ihnen nicht bedroht, müssen sich nicht beweisen. So können wir bereits im Vorfeld Gewalt verhindern." Inbar Sagi ist gerade 20 Jahre alt. Sie hat langes, blondes Haar, freche blaue Augen, ein spitzbübisches Lächeln und spricht mit der Geschwindigkeit eines Transrapid. Sie kommt aus Ramat Hasharon, einem der wohlhabendsten Wohnorte Israels. Diese Unteroffizierin ist mindestens einen Kopf kleiner als Sikvaschwili und die anderen stämmigen Kriminellen, die sie seit drei Monaten kommandiert: „Ja, ich habe manchmal Angst", gibt sie zu, aber aus einem anderen Grund, als man annehmen würde:
„Ich mache mir Sorgen, weil ich weiss, dass dieser Ort für viele die letzte Chance auf ein besseres Leben ist und es von mir abhängt, ob sie sie nutzen."
Wie Sagi haben auch die übrigen Offiziere sich für die Aufgabe in Havat Hashomer freiwillig gemeldet: „Ich wollte hier dienen, weil ich gern hart arbeite und weil ich etwas tun möchte, das meinem Wehrdienst Sinn verleiht", sagt Sagi.
Harte Arbeit gibt es genug: „Jeder Tag ist ein Kampf. Allein die Rekruten dazu zu bringen, morgens aufzustehen, ist eine Herausforderung. Aber man darf nicht aufgeben, und ich gebe nie nach", sagt Sagi. Beharrlich stachelt sie ihre Kompanie an: „Aufstehen, aufstehen!" Dann sorgt sie dafür, dass die Männer sich ordentlich anziehen und Spalier stehen. Immer wieder wird sie dafür verflucht. Andere ignorieren sie. Soldaten drohen ihr, oder machen anzügliche Bemerkungen.
„Man muss lernen, das nicht persönlich zu nehmen. Aber als ich das erste Mal eine Kompanie ausbildete, weinte ich drei Monate lang jeden Tag. Jetzt habe ich gelernt, mein Vertrauen in diese Soldaten zu setzen. Das gibt ihnen viel Kraft", sagt Sagi.
Nach wochenlangen Diskussionen, Drohungen und schwerer Arbeit kommt es zu einer einzigartigen Verbindung zwischen den Töchtern der israelischen Elite und den Kriminellen aus sozialen Randgruppen. Die jungen Frauen, die sich in Zivil vor solchen Männern fürchteten, entdecken Mitgefühl und Verständnis für ihre Rekruten. Im Gegenzug erhalten sie Respekt und Disziplin: „Heute würde ich alles für meine Offiziere tun. Was immer ich tue, ich habe sie vor Augen", sagt Sikvaschwili. Seine zweite Grundausbildung hat er als Mustersoldat seiner Kompanie bestanden. „Mehr als 70% der Männer und 90% der Frauen, die im Rahmen dieses Sonderprogramms eingezogen werden, leisten ihren vollen Wehrdienst ab", sagt Major Rinat Adler. Sie leitet die zuständige Abteilung im Erziehungscorps.
Korporal Inbar Sagi. Foto: G. Yaron.
Aber nicht nur die israelische Armee soll Nutzen ziehen: „Wir haben eine nationale Aufgabe", sagt Karni. „Jeder siebente Soldat hier hat kein Abitur. Bei uns erhalten sie die Gelegenheit, während ihres Wehrdienstes einen Schulabschluss zu machen und einen Beruf zu erlernen, mit dem sie später einen Lebensunterhalt verdienen können", sagt Adler. Aus Straftätern werden so Mechaniker, Sekretäre und Elektriker. Sagi brüstet sich mit einem ganz anderen Erfolg, der nebensächlich erscheinen mag: „Einer meiner Soldaten rauchte zwei Päckchen am Tag, als er herkam. Ich habe ihn auf acht Zigaretten hinuntergebracht", sagt sie. Für manche Soldaten ändert sich sogar das Leben in Zivil: „Früher, als ich das Haus verliess, hat meine Mutter sich Sorgen gemacht und mich vierzig Mal am Tag angerufen", sagt Sikvaschwili. „Jetzt macht sie das nicht mehr. Sie weiss, dass bei mir endlich alles wieder im Lot ist."