Mit der Erstürmung von Schiffen der Gaza-Hilfsflotte Ende Mai / Anfang Juni 2010 durch die israelische Armee wurde ein weitgehend vergessenes Problem offensichtlich: die mittlerweile praktisch seit vier Jahren bestehende Blockade des Gaza-Streifens, die zu einer schweren Beeinträchtigung der Lebenssituation der dort ansässigen Bevölkerung geführt hat.
Mit der Blockade verfolgte Israel mehrere Ziele: zuerst wollte die Jerusalemer Regierung erzwingen, dass der seit 2006 von der Hamas gefangen gehaltene Soldat Gilad Schalit freikommt. Später begründete Israel die Sperre mit der Machtübernahme der Hamas als Terrorgruppe im Juni 2007 sowie der Notwendigkeit, Waffenschmuggel in das Gebiet zu unterbinden. Die Folge der Gaza-Blockade war ein Zusammenbruch der dortigen Wirtschaft und damit einhergehend eine Verschlechterung der humanitären Situation für die Bevölkerung im Gaza-Streifen. Rund sechzig Prozent der Bevölkerung leiden an akuter Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, weil nur mehr dringend benötigte humanitäre Hilfsmittel in das Gebiet importiert werden dürfen und die Einfuhr nahezu aller Rohstoffe verboten ist. Auf internationaler Ebene wurde die Blockade mehrfach als unverhältnismässig kritisiert. Insbesondere die Vereinten Nationen beklagten, die erlaubten Einfuhren in den Gaza-Streifen lägen weit unterhalb der Mindesterfordernisse, und vor allem würden nahezu keine Baustoffe in den Gaza-Streifen gelassen. Auch der Export von Waren ist weitestgehend unterbunden. Versucht man die durch die Blockade erzielte Wirkung zu messen, so fällt das Ergebnis relativ bescheiden aus: die Gaza-Blockade hat weder die Hamas an der Ausübung ihrer Macht gehindert, noch konnte innerhalb der Palästinenser mit dieser Massnahme eine negative Stimmung gegen die Hamas erzielt werden. Die Fatah hat ihre Macht zwar mithilfe Israels in Cisjordanien konsolidiert - aber auch nur dort. Mit Blick auf das Verhältnis zu den anderen wichtigen Akteuren in der Region hat die Blockade nur beschränkt positiv gewirkt: Der Iran wettert mit ungebrochener Vehemenz gegen Israel, die Hisbollah im Libanon scheint trotz aller UN- und EU-Kontrollen für den nächsten Krieg gerüstet. Ägypten sorgt sich um den kränklichen Präsidenten, und in Syrien steht es bei der Werbung um die Gunst von Präsident Baschar al-Assad höchstens unentschieden zwischen dem Iran und dem Westen. Durch das Entern von Schiffen der Gaza-Hilfsflotte wurde Israels Position weiter geschwächt. Doch was ist eigentlich passiert, und wie kann Israels Vorgehen rechtlich eingeordnet werden?
Die israelische Aktion gegen die Gaza-Hilfsflotte
Mit der Gaza-Hilfsflotte wurde offiziell das Ziel verfolgt, die israelische Blockade zu durchbrechen und Hilfsgüter in den Gaza-Streifen zu bringen. Bereits von Beginn an war jedoch auch offensichtlich, dass neben Hilfsgütern vor allem eine politische Botschaft transportiert wurde: die Forderung nach dem Ende der Gaza-Blockade. Diese Forderung wurde von Anfang an offen zur Schau gestellt und von Israel dementsprechend ablehnend aufgenommen, ja, als Provokation qualifiziert. Am 31. Mai 2010 kam es zur Eskalation der Situation: Sechs Schiffe hatten einen Tag zuvor die zypriotischen Hoheitsgewässer verlassen und sich auf den Weg zum Gaza-Streifen gemacht. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde von israelischer Seite klar gemacht, dass die Flotte, falls notwendig auch mit Gewalt, gestoppt würde. An Bord der Schiffe waren etwa 10.000 Tonnen Hilfsgüter, darunter auch hundert Fertighäuser, 500 Rollstühle sowie medizinische Ausrüstung. Die sechs Schiffe wurden schliesslich geentert, weil sie die über dem Gaza-Streifen verhängte Seeblockade hatten durchbrechen wollen, hiess es von offizieller israelischer Seite. Bei der Aktion starben neun Menschen, mehr als fünfzig wurden verletzt. Die Solidaritätsflotte Gaza wurde am Erreichen des blockierten Zielhafens in Gaza gehindert. Seitens des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wurde die Aktion auf das Schärfste zurückgewiesen, und Israels Premier Benjamin Netanjahu drückte sein Bedauern über den Vorfall aus. International wurde mehrfach ausgeführt, die Aktion der israelischen Sicherheitskräfte habe den Friedensbemühungen im Nahen Osten Schaden zugefügt. Auch das Verhältnis Israels zur Türkei wurde durch die Erstürmung der Marmara, auf der es auch zu den blutigen Auseinandersetzungen kam, nachhaltig beeinträchtigt. Die wenige Tage später in Richtung Gaza vordringende irische Rachel Corrie konnte unblutig am Eintreffen in Gaza gehindert werden.
Der Versuch einer rechtlichen Einordnung
Der Versuch, eine rechtliche Einschätzung der Ereignisse von Ende Mai/ Anfang Juni diesen Jahres durchzuführen, gestaltet sich als schwierig, weil insbesondere dem Völkerrecht eine entscheidende Bedeutung bei der Lösung der Frage zukommt. Ein wesentliches Faktum stellt die Frage nach der völkerrechtlichen Bewertung des Konflikts zwischen der Hamas und Israel dar, wobei zentral die Frage im Raum steht, ob der Konflikt als Krieg verstanden wird. Weiters spielen der völkerrechtliche Status des Gaza-Streifens sowie die Völkerrechtskonformität der Gaza-Blockade eine wichtige Rolle. Die eigentliche Kernfrage betrifft aber wohl die Verhältnismässigkeit der Aktion. Das geltende Seerecht sieht grundsätzlich die Freiheit der Meere vor, der jedoch durch die Hoheitsgewässer der Küstenstaaten Grenzen gesetzt sind. Die Aktion der israelischen Armee wurde ausserhalb israelischer Hoheitsgewässer durchgeführt. Würde der Konflikt zwischen der Hamas und Israel als Krieg gewertet, so stünde das Kriegsrecht über der Freiheit der Schifffahrt auf hoher See. Geht man daher von einem bewaffneten Konflikt aus, dann hätte Israel die Schiffe, die unter der Flagge eines Drittstaates in Richtung Gaza-Streifen unterwegs waren, zu Recht anhalten und durchsuchen dürfen. Das Handbuch von San Remo über das anwendbare Recht in bewaffneten Konflikten zur See von 1994 sieht dies im Falle einer legitimen Blockade zwischen kriegführenden Parteien ausdrücklich vor. Bei diesem Handbuch handelt es sich zwar nicht um ein formal völkerrechtlich verbindliches Dokument, dennoch sieht es ein Teil der Lehre als Kodifizierung von Völkergewohnheitsrecht an. Die grundsätzliche Frage, ob man gegenwärtig den Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen als Krieg bezeichnen kann, ist allerdings umstritten.
Sollte das Kriegsrecht nicht auf die Ereignisse anwendbar sein, so geht die Meinung der Völkerrechtler zumeist davon aus, dass Israel mit dem Angriff auf die Schiffe in internationalen Gewässern das Seerecht verletzt hat. Zwar hat Israel das Seerechts-Übereinkommen von 1982 nicht ratifiziert, die grundlegenden Regeln über die Nutzung der internationalen Gewässer gelten aber als Völkergewohnheitsrecht. Dabei ist vorgesehen, dass Schiffe auf hoher See nur ausnahmsweise und bei begründetem Verdacht auf bestimmte illegale Aktivitäten (Piraterie, Menschenhandel) von einem Küstenstaat durchsucht werden dürfen. Nach geltendem Seerecht hätte Israel erst eine Durchsuchung in der sogenannten Anschlusszone (24 Seemeilen von der Küstenlinie) durchführen dürfen. Das Seerecht sieht zudem vor, dass solche Durchsuchungen verhältnismässig ablaufen müssen. Die Verhältnismässigkeitsprüfung stellt gleichsam das Fundament jeglicher Rechtfertigung einer Kontrolle durch den Küstenstaat dar.
Durch den israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen im Jahr 2005 ergibt sich die Frage, inwieweit Israel über den Gaza-Streifen überhaupt hoheitliche Kontrolle ausübt. Diese liegt nach offiziellem israelischem Standpunkt nicht vor. Daher stellt auch aus israelischer Sicht der Gaza-Streifen kein besetztes Gebiet im Sinne des Kriegsvölkerrechts dar. Allerdings kontrolliert Israel, abgesehen vom EU-kontrollierten Übergang Rafah an der Grenze zu Ägypten, alle Zugänge zum Gaza-Streifen und verhängte 2007 die Blockade. Israel kontrolliert somit den gesamten Güter- und Personenverkehr sowie die Wasserversorgung des Gaza-Streifens. Aufgrund der starken faktischen Präsenz geht die Staatenwelt deshalb mehrheitlich davon aus, dass der Gaza-Streifen besetztes Gebiet darstellt.
Entscheidendes Faktum bleibt die Frage nach der Verhältnismässigkeit der israelischen Aktion, die allerdings wesentlich von den konkreten Umständen abhängt. Deren Darstellung divergiert bei den Konfliktparteien immer noch stark, eine objektive Annäherung wird dadurch erschwert. Für Israel spricht, dass man die Besatzung der Schiffe mehrmals gewarnt und aufgefordert hat, in den Hafen von Ashdod einzufahren, ohne dass diese Aufforderungen befolgt worden wären. Israel hatte gegenüber den Schiffen bereits seit dem Verlassen der zypriotischen Hoheitsgewässer klargemacht, dass die Flotte nötigenfalls auch mit Gewalt gestoppt würde. Ohne Zweifel durften sich die israelischen Soldaten auch zur Wehr setzen, als sie von den Aktivisten mit Messern angegriffen wurden. Bedenklich erscheint die Aktion, weil es technisch möglich ist, Schiffe ohne militärische Enterung fahruntüchtig zu machen. Daher wird die Verhältnismässigkeit der israelischen Aktion angezweifelt.
Fazit: Israels Ruf wurde nachhaltig beschädigt
Israel selbst hat sich mit der Aktion keinen guten Dienst erwiesen und mit der Türkei auch einen ehemals eng Verbündeten verärgert. Selbst die USA haben das israelische Vorgehen scharf zurückgewiesen, von der UNO und der EU ganz zu schweigen. Aufgrund des internationalen Drucks beschloss Israel am 20. Juni 2010, die Blockade zu lockern und die Zahl der Lastwagenladungen, die in den Gaza-Streifen vorgelassen werden, zu erhöhen. Damit ist allerdings das grundlegende Problem nicht gelöst. Es geht nicht nur darum, die humanitäre Situation durch zusätzliche Hilfe zu verbessern, vielmehr muss die Isolation der Bevölkerung des Gaza-Streifens beendet werden, um durch eine Ankurbelung der lokalen Wirtschaft und einen umfassenden Wiederaufbau für Stabilität in der Region zu sorgen. Es scheint daher offensichtlich, dass Israel um eine Aufhebung der Gaza-Blockade nicht herum kommt. Hierbei gilt es, diese konzertiert und, wenn möglich, unter internationaler Aufsicht und Kontrolle, sei es im Rahmen der EU oder der UNO, durchzuführen. Dabei darf nicht auf eine Lösung der inner-palästinensischen Streitigkeiten zwischen der Fatah und der Hamas vergessen werden, denn ohne Einbindung der Hamas scheint auch ein nachhaltiges Ende der Gaza-Blockade undurchführbar.
Anmerkung der Redaktion:
Da das Thema in öffentlichen Diskussionen allgegenwärtig ist, werden in diesem Heft erstmals zwei kontroversielle Artikel dazu präsentiert: Beide beurteilen die Frage um die Rechtmässigkeit sowohl der israelischen Handlungen als auch der Gaza-Flotte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir möchten verschiedene Rechtsauslegungen und Meinungen präsentieren und überlassen es dem Leser, sich selbst ein Urteil zu bilden.