Bernd Schuchter
Mathematische Probleme im Schottischen Café,
Fleckfieber und Nazis
Lutz C. Kleveman, Lemberg.
Die vergessene Mitte Europas.
Berlin: Aufbau Verlag 2017.
315 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Euro 24,70
ISBN 978-3-351-03668-3
Lutz Kleveman beginnt sein immens spannendes, informatives, bedrückendes Buch mit einem Prolog: 1990 reissen die Lemberger das Lenin-Denkmal vor der Oper von seinem Rotgranit-Sockel. Der Sockel zerbricht und unter der Granitschicht kommt Lembergs vergessene Vergangenheit zum Vorschein: jüdische Grabsteine, mazewot, die von jüdischen Zwangsarbeitern zu Brocken zerschlagen werden mussten. Die Jubelstimmung ist dahin. „Mehr als 25 Jahre sind seit jenem Tag vergangen, aber noch heute liegt Lembergs Geschichte unter dickem Zement.“
In Lemberg „lässt sich das Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet nachspüren“. Obwohl reflexartig in Europas Osten verortet, liegt die Stadt rein geografisch betrachtet in der Mitte. Und über diese Mitte fegte die Geschichte unerbittlich hinweg, Herrschaften, Staaten, Zugehörigkeiten, Unterdrückungen wechseln – zwischen 1914 und 1990 gleich sieben Mal. In einer solchen Stadt dürfe „man sich nicht nur auf Blick und Gehör verlassen“, liest Kleveman bei Adam Zagajewski, „man muss auch die Vorstellungskraft bemühen“.
Das nimmt sich Kleveman zu Herzen. Erst einmal recherchiert er so gründlich es geht – in wissenschaftlicher Literatur genauso wie in Tagebüchern; je näher er der Gegenwart kommt, auch durch Gespräche mit Zeitzeugen –, dann aber versucht er, das Gelesene in der Stadt zu entdecken, beginnend bei der Herrschaft der Habsburger über den Ersten Weltkrieg, die sowjetische und die Naziherrschaft bis zu Juri Golub, einem 1991 geborenen, 2014 im Krieg gefallenen Infanteristen, der den ehemals notgedrungen professionell unemotionalen Kleveman unversehens zwingt, Mitleid zu empfinden.
Kleveman will ein Bild Lembergs wiederherstellen, ein zerstörtes Mosaik zusammensetzen, und kämpft dabei mit verschiedensten Schwierigkeiten. „In Lemberg gibt es drei kollektive Gedächtnisse, die wenig miteinander gemein haben“, muss er feststellen: ein polnisches, ein ukrainisches, ein jüdisches. Jedes dieser Gedächtnisse hat zudem ungeheure Lücken, an vieles will man sich nicht erinnern: „Welche Pogrome?“
Gäbe es nicht diese inspirierenden Kapitel über die Lemberger Blüte der Mathematik unter der Federführung von Genies wie Stefan Banach, Stanislaw Ulam oder Stanislaw Mazur und über die Lemberger Moderne, die sich im Café Atlas abspielte, wäre es ein wirklich deprimierendes Buch. Quer durch das ganze 20. Jahrhundert geraten die Lemberger von einer Katastrophe in die nächste, jede Befreiung wird neuer Schrecken. „Eigentlich wollte ich vor allem darüber schreiben, wie die Lemberger gelebt hatten, und nicht darüber, wie sie gestorben waren“, ringt Kleveman mit seinem Buch, und mit ihm ringt der Leser. Verstört schliesst man das Buch; man hat mehr über Europa, vielleicht über den Menschen an sich erfahren, als man wissen wollte.