Fabian Brändle
Ethnographie einer Freiluft-Schachszene
Reiss, Roger: Wilder Tanz der Greise. Schachspielszenen im
Parc des Bastions – Genf.
Selfpublishing, Kindle Print, by Amazon 2019.
Taschenbuch, 182 Seiten, Euro 17,72
ISBN 9781794034709
https://www.amazon.de/WILDER-TANZ-GREISE-Schachspielszenen-Bastions/dp/1794034706/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1548848781&sr=8-1&keywords=roger+reiss
Der Genfer Roger Reiss ist ein erfahrener Autor. Seine Bücher sind einprägsame, humorvolle, klar geschriebene, oftmals autobiographische Milieuschilderungen. Reiss versteht es, in seinen Werken die Atmosphäre eines Orts und einer bestimmten Zeit zu beschreiben, so auch in seinem neuesten Buch „Wilder Tanz der Greise. Schachspielszenen im Parc des Bastions“, worin Reiss sich als genauer Beobachter der Genfer Freiluft-Schachszene hervortut.
Im schönen Parc des Bastions treffen sich tagtäglich angefressene Schachspieler und Zuschauer, zu denen auch Roger Reiss gehört. Die Klientel ist international, besteht sie doch aus Osteuropäern, exilierten Persern, einem besonders starken Senegalesen, der gerne in seiner Heimattracht antritt. Zu den Zaungästen gehören auch Arbeitslose oder Drogenabhängige, die von der Genfer Polizei streng kontrolliert werden.
Zwar halten sich die Schachspieler an die Regeln, doch manch eine Partie endet in Zank und Streit. Psychologische „Kriegsführung“ ist gang und gäbe. Manchmal entwickeln sich aus den Wortgefechten gar veritable Schlägereien, so ehrgeizig sind die Spieler. Jeder will der Beste sein, den anderen demütigen. Reiss selbst spielt wie gesagt niemals mit, er beobachtet bloss und macht sich seine Gedanken. Ihm ist der wunderschöne, von Kastanienbäumen beschattete Park auch ein Refugium von seinem beruflichen Stress.
So manch ein Schachspieler ist im Laufe der Jahrzehnte gealtert, nicht mehr im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Es ist dann schwierig für ihn, die Spielfiguren adäquat zu bewegen. Dann ist Hilfe aus dem Publikum vonnöten. Es kommt schon einmal vor, dass ein älterer Spieler auf den Boden fällt und sich weh tut. Dann werden auch die Figuren verschoben, sehr zum Zorn des Gegenübers, der den Sieg für sich reklamiert. Reiss ist ein Meister im Beschreiben solcher tragikomischer Szenen.
So gross die Konzentration auf das Schachspiel ist, so bleiben dem Autor doch auch Momente der Reflexion über Geschichte und Gegenwart. So lernt er im Parc des Bastions einen jüdischen Greis kennen, der sich als Anhänger der Hagana und Feind Begins zu erkennen gibt. Solche Begegnungen sind in der Schweiz wohl nur im multikulturellen Genf möglich.
Insgesamt erweist sich das Buch als äusserst vergnügliche, interessante und lehrreiche Lektüre, die einem auch vergessene jüdische Meister des Schachspiels näher bringen. Es bleibt die Hoffnung, dass der Autor Zeit und Musse findet, der Leserschaft noch weitere autobiographische Juwelen zu präsentieren.