Ausgabe

Jüdische Gründerpersönlichkeiten der österreichischen ­Sozialdemokratie

Monika Kaczek

Zu den wichtigsten jüdischen ­Persönlichkeiten in der Entstehungszeit der Sozialdemokratie in ­Österreich gehörten Victor Adler, Otto Bauer und engagierte Frauen wie Therese Schlesinger.

Inhalt

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Victor Adler, um 1900

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Adler#/media/Datei:Victor_Adler.jpg; gemeinfrei)

 

Victor Adler und Otto Bauer

Victor Adler (eigentlich: Viktor Adler) kam am 24. Juni 1852 in Prag als Sohn des jüdischen Kaufmanns Salomon Markus Adler und dessen Frau Johanna (geborene Herzl) zur Welt. Drei Jahre später übersiedelte die Familie nach Wien, wo Victor das Schottengymnasium absolvierte. Nach einem kurzen Studium der Chemie an der Universität Wien wechselte er zur Medizin. Im Anschluss an seine Promotion praktizierte er als Arzt an der Psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. 1879 heiratete er Emma Braun und 1879 kam ihr Sohn Friedrich zur Welt.

Politisch stand Victor Adler zunächst der deutschnationalen Bewegung unter Georg von Schönerer nahe, löste sich aber bald von der Gruppe. Ein Grund für die Trennung war auch der immer stärker werdende Antisemitismus. In einem Brief an Friedrich Engels schrieb er darüber:

„Im Antisemitismus wird also die soziale Frage verdunkelt, sie wird einseitig und verschroben zum Bewusstsein des Volkes gebracht. Ein Kampf um die Beute wird dargestellt als Kampf gegen die Ausbeutung. Aber der Wahn kann nicht lange dauern. Die antisemitische Bewegung ist immerhin eine Bewegung, und zwar eine Bewegung von Volksschichten, die insbesondere bei uns die schwerfälligsten und dumpfsten sind.“1

Während einer 1883 unternommenen Reise nach Deutschland, in die Schweiz und nach England lernte er Wilhelm Liebknecht, August Bebel und Friedrich Engels kennen. Durch diese Begegnungen und das Erkennen der katastrophalen Lebenssituation des Proletariats setzte Victor Adler sich verstärkt mit den Ideen der Arbeiterbewegung und mit dem Marxismus auseinander. Anfang des Jahres 1889 gründete er die Arbeiter-Zeitung, die zunächst wöchentlich und ab Oktober täglich erschien. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Victor Adler mehrmals verhaftet und verbrachte etwa neun Monate im Arrest.

1885 war es sein Verdienst, dass die „Radikalen“ und die „Gemässigten“, die anlässlich der von Minister Taafe geplanten „Sozialistengesetze“ zum ersten Mal seit längerem wieder an einem Tisch sassen, sich auf ein gemeinsames Papier einigen konnten. Er hatte auch entscheidenden Anteil an der Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung beim Hainfelder Parteitag von 1888/1889, der als Gründungsdatum der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) gilt. Ein besonderes Anliegen war ihm die Zusammenarbeit mit der ungarischen und slawischen Arbeiterbewegung sowie die Überwindung des Nationalitätenproblems der Monarchie. Als Abgeordneter gehörte Victor Adler zunächst dem niederösterreichischen Landtag an, in weiterer Folge wurde er Mitglied des Reichsrats. Während des Ersten Weltkriegs vertrat er den Gedanken einer„Burgfriedenspolitik“, wo innenpolitische Konflikte bewusst zurückgestellt werden sollten, und der ihm massive Kritik von einigen Mitgliedern seiner Partei eintrug. Einen Tag vor der Proklamation der Demokratischen Republik Deutsch-Österreich starb Victor Adler am 11. November 1918 in Wien.

Otto Bauer wurde am 5. September 1881 in Wien als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten Philipp Bauer geboren. Er studierte Rechtswissenschaften sowie Geschichte an der Wiener Universität und wurde im Jahre 1900 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, wo Victor Adler zu seinen Förderern zählte. 1907 veröffentlichte er sein Buch Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, in welchem er den Begriff „Nation“ zu definieren versuchte. Otto Bauer sah darin nicht nur eine Gemeinschaft gleicher Abstammung und Sprache, sondern eine aus gemeinsamer Geschichte entstandene Kultur- und Charaktergemeinschaft, die einem ständigen Wandel unterworfen ist.

„Bauer brach jedoch mit der Auffassung, wonach die nationalen Charaktere und Besonderheiten in einer sozialistischen Gesellschaft verschwinden würden. Diese könnten sich, im Gegenteil, in einer klassenlosen Gesellschaft sogar noch stärker entfalten.“2

Gemeinsam mit Karl Renner und Adolf Braun gründete er die Zeitschrift Der Kampf.

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Otto Bauer, 1919

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Bauer#/media/Datei:Sennecke_-_Otto_Bauer,_1919.jpg, Robert Sennecke, gemeinfrei)

Während des Ersten Weltkriegs geriet Otto Bauer bereits 1914 an der russischen Front in Kriegsgefangenschaft und kam drei Jahre später im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Nach der Rückkehr war er von 1918 bis 1934 stellvertretender Parteivorsitzender der SDAP. Otto Bauer war ein entschiedener Gegner jeglicher Kriegspolitik und schloss sich innerhalb seiner Partei dem linken Flügel an. Zu seinen wichtigsten ideologischen Positionen zählte unter anderem der „integrale Sozialismus“, der von einer Wiedervereinigung der in Kommunisten und Sozialdemokraten geteilten Arbeiterbewegung ausging. Manche seiner politischen Entscheidungen, wie zum Beispiel der Gang in die Opposition im Jahr 1920 oder der Verzicht auf einen Generalstreik nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933, waren teilweise umstritten. In der von Karl Renner geführten Koalitionsregierung agierte er als Staatssekretär für Äusseres.

Nach seiner Flucht im Zuge des Bürgerkriegs 1934 nach Brünn (Brno, Tschechoslowakei) baute er das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie auf. Vier Jahre später floh er zunächst nach Brüssel und anschliessend nach Paris, wo er am 5. Juli 1938 einem Herzinfarkt erlag. Er wurde auf dem Friedhof Père Lachaise gegenüber dem Denkmal für die Kämpfer der Pariser Kommune von 1871 beigesetzt. 1948 wurde seine Urne nach Wien gebracht und zwei Jahre danach schliesslich in ein ehrenhalber gewidmetes Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof, das sich neben jenen von Victor Adler und Karl Seitz befindet, umgebettet.

Wie viele andere SozialdemokratInnen war für Victor Adler und Otto Bauer ihre Herkunft kein Thema. Dass

„auch und vor allem Sozialdemokraten jüdischer Herkunft wie Victor Adler und Otto Bauer jede Betonung der eigenen jüdischen Identität scharf zurückwiesen und auf dem Ziel einer vollständigen Assimilierung, also einer Auflösung des Judentums in seinem gesellschaftlichen Umfeld bestanden, ist ein Indikator für den stark ausgeprägten Wunsch von Menschen, ihre von der Umgebung angefeindete jüdische Identität zur Gänze aufgeben zu dürfen - und nicht etwa, dieser antisemitischen Umgebung offensiv und direkt den Antisemitismus zu nehmen.“3

 

Therese Schlesinger und das Frauenzentralkomitee der SDAP

Obwohl das Hainfelder Programm Diskriminierung nach Geschlecht verurteilte, nahm keine einzige Frau am Parteitag in Hainfeld teil. Im darauf folgenden Jahr wurde in Wien zunächst ein Arbeiterinnen-Bildungsverein gegründet. Ab 1892 erschien die Arbeiterinnen-Zeitung, die von Adelheid Popp geleitet wurde.

Eine bedeutende Persönlichkeit der sozialdemokratischen Frauenbewegung war Therese Schlesinger, die am 6. Juni 1863 in Wien geboren wurde und aus der wohlhabenden jüdischen Familie Eckstein stammte. Nach dem Verlassen der Bürgerschule erhielt Therese Eckstein zu Hause Privatunterricht in Geschichte und Literatur. 1888 heiratete sie den Bankbeamten Paul Schlesinger und ein Jahr später kam am 15. August  ihre Tochter Anna 4 zur Welt. Doch das Eheglück dauerte nur kurz, da Thereses Ehemann 1890 an Tuberkulose verstarb. Durch Freundinnen wurde Therese Schlesinger auf die Sozialdemokratie aufmerksam, und auch ihr Bruder Gustav Eckstein schloss sich der Bewegung an.5 Mit Victor Adler verband Therese Schlesinger eine enge Freundschaft; nach dem Attentat Friedrich Adlers auf Karl Stürgkh6 unterstützte sie Victor Adler.

1894 trat Therese Schlesinger dem Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖFV) bei, und drei Jahre später wurde sie Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Sie wurde zu einer Vorkämpferin des Wahlrechts der Frauen und des allgemeinen Wahlrechts. 1901 war sie Mitbegründerin des Vereins sozialdemokratischer Frauen und Mädchen und verfasste Bücher zur Frauenfrage, publizierte Artikel in sozialdemokratischen Schriften, wie der Arbeiter-Zeitung und Die Unzufriedene. Wichtige Anliegen waren ihr die schulische Bildung von Mädchen, der Kinder- und Jugendschutz wie auch die sexuelle Befreiung der Frauen.

Im Jahre 1909 wurde den Genossinnen eine eigene freie Frauenorganisation im Rahmen der Partei gestattet, das 1898 gegründete Frauenreichskomitee (heute: SPÖ Bundesfrauen) galt nun als Organ der Partei.

Therese Schlesinger wurde Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung (4. März 1919 bis 9. November 1920), danach gehörte sie der Nationalversammlung der I. Gesetzes­periode an (10. November 1020 bis 20. November 1923). Im Anschluss daran war sie bis zum 5. Dezember 1930 im Bundesrat tätig. Nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei durch den Ständestaat (1934) und dem Einmarsch Hitlers 1938 floh Therese Schlesinger ins Exil nach Frankreich, wo sie am 5. Juni 1940 in Blois bei Paris starb. Ihren grossen Wunsch und ihre Hoffnung konnte sie nicht mehr erleben: „Der Sieg der Alliierten könnte mich heilen, er könnte die Welt heilen.“7

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Therese Schlesinger – vordere Reihe,
Dritte von links beim Frauenreichskomitee

(später: Frauenzentral­komitee) 1917 (https://de.wikipedia.org/wiki/Therese_Schlesinger#/media/Datei:Frauenreichskomitee_1917.jpg, gemeinfrei)

Literatur

Bock, Eva: Therese Schlesinger
(1863 – 1940). Eine Untersuchung über ihr politisches und publizistisches Wirken in der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Wien: Universität Wien (Dissertation) 1987

Callesen, Gerd/ Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.): Victor Adler / Friedrich Engels. Briefwechsel. Im Auftrag des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung herausgegeben von Gerd Callesen und Wolfgang Maderthaner.
Berlin: Akademie Verlag 2011

Maderthaner, Wolfgang: Poliitk als Kunst: Victor Adler, die Wiener Moderne und das Konzept einer poetischen Politik. In: Nautz, Jürgen/Vahrenkamp, Richard (Hrsg.): Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen. Studien zu Politik und Verwaltung. Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Mantl und Manfred Welan. Band 46. Wien/Köln/Graz: Böhlau Verlag 1993, S. 759-776

Pelinka, Anton: Sozialdemokratie und Antisemitismus. In: ÖZG 4/1992,
Forum, S. 540-582

Sandner, Günther: Zwischen Anerkennung und Differenz. Die Nationalitätentheorien von Karl Renner und Otto Bauer im Kontext. In: Müller-Funk, Wolfgang/Wagner, Birgit (Hrsg.): Eigene und andere Fremde. »Postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext. Reihe Kultur. Wissenschaften. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Band 8.4. Wien: Turia + Kant 2005, S. 90-101.

1
Callesen, Gerd/ Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.): Victor Adler / Friedrich Engels. Briefwechsel.
Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 116

2
Sandner, Günther: Zwischen Anerkennung und Differenz. Die Nationalitätentheorien von Karl Renner und Otto Bauer im Kontext. In: Müller-Funk, Wolfgang/Wagner, Birgit (Hrsg.): Eigene und andere Fremde. »Postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext. Reihe Kultur. Wissenschaften.
Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Band 8.4. Wien: Turia + Kant 2005, S. 97


Pelinka, Anton: Sozialdemokratie und Antisemitismus.
In: ÖZG 4/1992, Forum, S. 545

4
Anna, verh. Frey, litt unter starken Depressionen und alle damals gängigen Therapieformen konnten ihr Leid nicht lindern. Am 23. Februar beging sie knapp 30-jährig Selbstmord.

5
Gustav Eckstein (19. Februar 1875 – 27. Juli 1919) war Journalist und zählte zu den wich-
tigsten Theoretikern des Austromarxismus.

6
Friedrich Adler war der Sohn Victor Adlers.
Am 21. Oktober 1916 erschoss Friedrich Adler den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh in einem Wiener Hotel. Adler wurde zunächst zum Tod verurteilt, wurde nach seiner Begnadigung 1918 aus dem Gefängnis entlassen.

7
Bock, Eva: Therese Schlesinger (1863 – 1940). Eine Untersuchung über ihr politisches und publizistisches Wirken in der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Wien: Universität Wien (Dissertation) 1987, S. 18.