Der 1961 geborene Michael Ludwig, als Nachfolger von Michael Häupl seit dem Mai 2018 Wiens Bürgermeister, ist seit seiner Jugend in der Sozialdemokratie und seit zwei Jahrzehnten in der Wiener Stadtpolitik aktiv. Mit DAVID sprach er über Rudi Gelbard als ihn prägende politische Persönlichkeit, über die Identitären und seine Perspektiven für die Stadt der Zukunft.
Bürgermeister Michael Ludwig mit Rudolf Gelbard.
Foto: Jobst, mit freundlicher Genehmigung Stadt Wien/PID.
DAVID: Herr Bürgermeister Ludwig, wie sehen Sie Wien in zwanzig Jahren, also rund um das Jahr 2040?
Michael Ludwig: Ich glaube, dass wir auf sehr guten Rahmenbedingungen aufbauen. In vielen internationalen Vergleichen sind wir die lebenswerteste Stadt, ein solches Ranking haben wir eben wieder gewonnen. Wien ist eine Stadt der Zukunft und ich denke, dass wir ein Laboratorium für die Zukunft sind. Wir versuchen technologischen Fortschritt so umzusetzen, dass er zum einen den Wirtschaftsstandort stärkt und zum anderen so, dass Wien keine Stadt der zwei Geschwindigkeiten wird. Dieses soziale Anliegen sieht man sehr gut an den grossen Stadtentwicklungsgebieten.
DAVID: Darf ich Sie fragen, wo Sie wohnen?
Michael Ludwig: Ich wohne in Floridsdorf.
DAVID: Wo Sie immer schon gelebt haben?
Michael Ludwig: Ich habe schon sehr lange und in verschiedenen Teilen von Floridsdorf gewohnt. Lange Zeit in einem Gemeindebau in Grossjedlersdorf, dann in Leopoldsdorf und jetzt wohne ich in Strebersdorf.
DAVID: Wohnen Sie in einem Gemeindebau, in Eigentum?
Michael Ludwig: Ich wohne in einem Kleingartenhaus. Klein aber oho.
DAVID: Sie haben die lebenswerten Seiten Wiens hervorgehoben, gleichzeitig wurden heuer im Mai an der Ringstrasse Porträts von Holocaust-Überlebenden beschmiert und zerstört. Das ist in keiner anderen Stadt passiert. Der Fotograf Luigi Toscano hat gefragt, „Österreich, was ist los mit Dir?“ Sind solche Vandalen-Akte nicht zutiefst beunruhigend?
Michael Ludwig: Neben positiven Entwicklungen gibt es auch Dinge, die abzulehnen sind. Ich war der erste Politiker, der bei der Mahnwache dabei war. Die Stadt hat diese Mahnwache sehr stark unterstützt, Motor waren aber die jungen Leute, die zusammen etwas dagegen getan haben. Sosehr die Zerstörungsakte abzulehnen sind, so schön war zu sehen, was da aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden ist, und zwar von allen Seiten her.
DAVID: Im Vorjahr ist Rudolf Gelbard (1930 – 2018) verstorben. Er hat als Kind aus Wien das KZ Theresienstadt überlebt und ist zu einem mahnenden Gewissen der Sozialdemokratie geworden. Wer war Rudi Gelbard für Sie? Wo haben Sie ihn kennen gelernt?
Michael Ludwig: Kennen gelernt habe ich ihn im Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer, dort haben wir mit Rosa Jochmann und Josef Hindels sehr eng zusammengearbeitet.
DAVID: Wie alt waren Sie damals?
Michael Ludwig: Da war ich noch nicht 18-jährig. Für mich war die antifaschistische Arbeit Teil der Sozialdemokratie. Ich bin einem Kontaktkomitee beigetreten, das Rosa Jochmann initiiert hat, um jungen Menschen die antifaschistische Arbeit nahe zu bringen.
DAVID: Was konkret stand vor Ihrem Schritt zu den Freiheitskämpfern, der ist ja nicht so einfach wie zum Fussballverein Rapid?
Michael Ludwig: Da Sie RAPID ansprechen, damals, Anfang der 1980er Jahre, haben Rechtsradikale den Fussballverein unterwandert, und ich war an einer Aktion beteiligt, wo wir Aufkleber verteilt haben, und es ist uns gemeinsam mit der Klubführung tatsächlich gelungen, die Rechtsradikalen hinauszubringen. Rudi Gelbard war sicher einer der ersten, den ich bei der antifaschistischen Arbeit kennen gelernt habe, und er hat zweierlei verbunden: seine persönliche Betroffenheit mit einer sehr klaren politischen Analyse. Viele waren verwundert, dass er über sein Schicksal im Holocaust so schonungslos reden konnte; er konnte es, weil er Entwicklungen mit seiner gesellschaftspolitischen Analyse seziert hat.
DAVID: Ist Ihnen vielleicht ein besonderes Gespräch in Erinnerung, wo Gelbard zu Ihnen gesagt hat, „Michel, da musst Du, da müssen wir jetzt etwas machen!“
Michael Ludwig: Rudi Gelbard war einer, der wirklich die theoretische Arbeit noch sehr mit Aktionismus verbunden hat. Er war schon in den 1950er-Jahren – auch auf der Strasse – an Auseinandersetzungen mit ehemaligen Nazis beteiligt.
DAVID: Rudi und ich haben einander beim Strafprozess gegen Hans Jörg Schimanek junior 1995 kennengelernt. Schimanek jun. war in einer paramilitärisch-neonazistischen Gruppe und ist wegen „Wiederbetätigung“ verurteilt worden.
Michael Ludwig: Zu Schimanek jun. kann ich auch etwas erzählen. Ich habe im Bildungszentrum in der Wiener Praterstrasse viele Veranstaltungen organisiert. Historisch ist das ein hoch interessanter Ort: In der Ersten Republik war es eines der ersten Bezirkssekretariate der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, im Austrofaschismus wurde es zum Büro der Vaterländischen Front und nach dem Einmarsch der Nazis 1938 wurde darin ein Durchgangslager der Gestapo eingerichtet, in dem Menschen zusammengepfercht auf engstem Raum auf die Deportation in die Vernichtungslager warten mussten. Bei der Renovierung habe ich aus dem Küchenfenster ein Gitter entfernen lassen, das haben wir als mahnendes Symbol bewahrt. Einmal haben wir dort Peter Glotz von der SPD mit seinem Buch über Die deutsche Rechte (1989 erschienen bei DVD) eingeladen. Der Saal war voll, als vier Burschen gekommen sind, die mit ihren Bomberjacken und Springerstiefeln klar als Rechtsradikale erkennbar waren. Einer von ihnen war Gottfried Küssel, ein anderer Schimanek junior. Da Glotz ausländischer Gast war, habe ich die Staatspolizei angerufen. Es kamen zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, haben die Rechtsradikalen gegrüsst, da man einander offensichtlich kannte, fanden aber keinen Grund, die Burschen aus dem Saal zu weisen. Die vier haben sich mit ihren üblichen Parolen in die Diskussion eingemischt und begonnen, Gaskammern zu leugnen. Daraufhin ist eine ältere Dame aufgestanden, hat ihren Ärmel aufgekrempelt, auf ihre KZ-Nummer gezeigt und gesagt, „Glauben Sie, ich habe mir das zum Spass eingebrannt?“ Die vier waren erledigt und sind abgezogen, das Publikum war erleichtert, dass ein Mensch es mit einer Geste geschafft hat, sie zum Gehen zu bringen.
DAVID: Menschen wie diese Überlebende von Auschwitz und Rudi Gelbard sind nicht mehr unter uns. Wer wird die Autorität ausstrahlen, die sie hatten?
Michael Ludwig: Man muss die antifaschistische Arbeit insgesamt anders ausrichten. Lange haben wir ja gehofft, dass das Thema mit dem physischen Aussterben der ehemaligen Nazis beendet sein wird. Aber es sind neue gekommen, die ganz anders auftreten. Die Identitären zum Beispiel.
DAVID: Stehen die Identitären in Wien unter Beobachtung und werden Sie als Bürgermeister informiert?
Michael Ludwig: Direkt unterrichtet werde ich nicht, weil das eine Angelegenheit des Innenministeriums ist. Aber ich weiss, dass sie unter Beobachtung stehen. Durch die Polizei und durch Einrichtungen der Zivilgesellschaft wie das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands. Da haben auch die Medien eine Verantwortung.
DAVID: Jeder hat auf seinem Gebiet Verantwortung. Die Frage ist, wie Menschen, die nicht mehr direkt, sondern meist im Internet kommunizieren, solche Strömungen überhaupt bemerken, und ob sie fähig sind, mit ihnen argumentativ in Konfrontation zu gehen.
Michael Ludwig: Ja, es gibt diese Parallelwelten. Die FPÖ beispielsweise hat ein Medienimperium aufgebaut, ausserhalb dessen viele keinen Kontakt mit anderen mehr haben.
DAVID: Christa Zöchling hat nach der Wahl von Pamela Rendi-Wagner zur SPÖ-Vorsitzenden im profil eine sehr grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie geschrieben. Unter dem Titel Phönix in der Asche (in profil 11/2019) hat sie die SPÖ vor einhundert Jahren charakterisiert, die bei den ersten freien Wahlen in der Ersten Republik stärkste Partei geworden ist und sowohl eine starke Ideologie hatte als auch sehr genau analysiert hat, was der Erste Weltkrieg mit Menschen angerichtet hatte. Weiss die Sozialdemokratie heute, wie die digitale Zeit das Denken verändert, die Demokratie verändert?
Michael Ludwig: Man stellt das heute so dar, als sei die Sozialdemokratie damals dafür gelobt worden, dass sie am Puls der Menschen ist. Die Sozialdemokratie ist damals wie heute hart kritisiert worden und es wurde ihr damals wie heute vorgeworfen, nicht die richtigen Themen zu erkennen. Es wird immer nur nachträglich anders gesehen.
DAVID: Historische Verläufe erkennt man immer erst im Nachhinein.
Michael Ludwig: Ich sage nur, dass das immer nach dem Motto verläuft, „nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“. Nach diesem Motto war die Sozialdemokratie damals eine echte Arbeiterpartei, und heute ist alles nichts mehr. Damals haben Medien geschrieben, die Sozialdemokratie verrate die Arbeiterschaft und die Gemeindebauten würden einstürzen usw. Heute sagt man genau so, sie sei nicht am Puls der Zeit. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie die wichtigen Themen der Menschen sehr wohl erkennt und bearbeitet.
DAVID: Gibt es innerhalb der Sozialdemokratie einen Schwerpunkt, gemeinsam mit der Wissenschaft zu erforschen, wie die neuen Medien den Einzelnen und die Gesellschaft verändern, und was das für die Politik bedeutet?
Michael Ludwig: Natürlich. Das ist ein laufender Prozess. Und Veränderungen in der Medienwelt sind auch nichts Neues.
DAVID: Gibt es anlässlich von 100 Jahre Rotes Wien die Idee, einen think tank zu diesem wichtigen Thema zu machen und gemeinsam über Gesellschaft und Neue Medien nachzudenken? Sie sprechen oft von smart city, das ist aber eher technisch zu verstehen.
Michael Ludwig: Für mich stellen technische Änderungen immer zutiefst soziale Fragen, es geht auch bei smart city darum, wie das Zusammenleben der Menschen funktioniert. Für mich war auch als zuständiger Stadtrat der Wohnbau nie ein technisches Thema, sondern immer ein soziales des Zusammenlebens. Ich war ja seit Jahrzehnten Bildungsfunktionär, ich war ehrenamtlicher Literaturreferent, Bildungssekretär, AZ-Referent.
DAVID: Gab es in der SPÖ Referenten für die Arbeiter Zeitung? Was haben die gemacht?
Michael Ludwig: Sie haben Werbung für die AZ gemacht. >
In meinem Bezirk in Floridsdorf erinnere ich mich noch gut an das grosse Wehklagen, als es hiess, die AZ wird nicht mehr weitergeführt. Ich habe dann gefragt, wer hat denn ein Abonnement der AZ? Es war ein Bruchteil derer, die im Bezirksausschuss der Partei gesessen sind. Sie haben zugegeben, „Wir haben kein Abo, aber wir kaufen die AZ in der Trafik.“ Dann bin ich, alles ehrenamtlich, in alle Trafiken ausgeschwärmt und habe gefragt, wie viele AZ täglich verkauft werden. Dann habe ich Stricherl-Listen gemacht und gesagt, „das geht sich noch immer nicht aus. Abos und Verkäufe in ganz Floridsdorf sind weniger als die Parteileute, die da sitzen“. Ich bin also dieser Heuchelei nachgegangen und dann haben viele gesagt, „Die AZ ist gut, aber so einseitig.“ In der Partei ist die Dynamik immer stärker geworden, die AZ sei zwar gut, habe aber weniger Leser als die Kronen Zeitung – und wenn jemand Journalisten etwas Interessantes zu erzählen hatte, hat er das nicht der AZ, sondern der Kronen Zeitung gesagt.
DAVID: Das ging hinauf bis zu den Bürgermeistern ...
Michael Ludwig: Das ging bis zu Bundeskanzlern. Ich bin Vorsitzender des Bruno Kreisky Archivs, und bei grösster Wertschätzung Kreisky gegenüber, er hat es genau so gemacht. Er ist am Sonntag mit Hans Dichand, dem Herausgeber der Kronen Zeitung spazieren gegangen ...
DAVID: Kreisky hat auch viel mit dem profil gemacht ...
Michael Ludwig: Ja. Aber auch mit der Kronen Zeitung und nicht mit der AZ. Und auch mit der bürgerlichen Presse, wie es damals noch genannt worden ist. Ich könnte da Geschichten erzählen.
DAVID: Also die eigenen Genossen fanden, die AZ sei nicht objektiv?
Michael Ludwig: Genau. Und ich habe gesagt, wir versuchen nicht, objektiv Informationen zu geben, sondern den klaren politischen Standpunkt, den wir vertreten. Und das, was die Kronen Zeitung schreibt, ist, genauso wie bei allen anderen, natürlich interessengeleitet. Also das war ein mühsamer Kampf.
DAVID: Der britische Guardian hat eben über eine neue transatlantische ökonomische Linke berichtet. Sie will eine faire Wirtschaft. Eine, die der Gesellschaft nützt statt die Menschen ihr unterzuordnen, und sie will auch mehr Entscheidung über Wirtschaft auf lokaler Ebene. Verfolgen Sie diese neue Entwicklung?
Michael Ludwig: Ich glaube, dass wir das leben, zu einem grossen Teil. Ich habe zum Beispiel Studien zur Re-Kommunalisierung beauftragt. Ergebnis war, dass in zwanzig Ländern der EU siebenhundert Re-Kommunalisierungen stattgefunden haben. Im Neoliberalismus hat man uns vorgeworfen, wir seien altmodisch, aber wir haben uns von Beginn an deutlich dagegen gewehrt und haben Wasser, Energie usw. nie privatisiert. Wir in Wien sind ein deutliches Gegenmodell gegen die neoliberalen Entwicklungen. Ich verwende da gerne ein Zitat von Armin Thurnher der gesagt hat, „Wien ist die Hauptstadt des demokratischen Sozialismus.“