Die Diplomatie ist eine traditionsreiche Kunst. Diplomaten wählen ihre Worte mit Bedacht, wollen niemanden verletzen, winden sich manchmal, bleiben in der Sache jedoch in der Regel hart. Der junge Staat Israel hatte noch wenig Erfahrung mit Diplomatie, als er zu Beginn der 1950er Jahre in Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland trat.
Es ging um nichts weniger als um Restitutionen für viele Millionen Menschenleben, die das nationalsozialistische „Dritte Reich“ auf dem Gewissen hatte. Dabei ist natürlich schwer abzuschätzen, wie viel Geld ein Menschenleben „wert“ ist. Israel jedenfalls brauchte Geld und Güter, der Staat war nach den Unabhängigkeitskriegen arm und international isoliert. Das noch unterentwickelte Land Israel war auch auf Importe aus Deutschland angewiesen, auf deutsche Lastwagen, Fertighäuser, Maschinen, Fertigprodukte.
Der namhafte deutsche, in Israel lehrende Historiker Dan Diner hat in seinem sehr interessanten, gut geschriebenen Buch Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage den sorgfältigen Versuch unternommen, eine Kulturgeschichte der verwickelten Restitutionsverhandlungen zu schreiben. Diner nahm dabei die komplexen, lange andauernden Aushandlungsprozesse unter die Lupe.
In Israel war die öffentliche Meinung durchaus gespalten. Während die eine Seite, unter ihnen der junge, charismatische Politiker Menachem Begin von der rechten Cheruth-Partei, mit den gedungenen nationalsozialistischen Mördern niemals Kontakt aufnehmen wollte und gar einen rituellen Bann („herem“) gegen diese einforderte, waren die „Realpolitiker“ auf der anderen Seite durchaus zu Verhandlungen und zu gewissen Konzessionen bereit. Ihnen wurde vorgeworfen, für einige wenige Mark zu feilschen, zu schachern und sich mit den Henkern an einen Tisch zu setzen. Die heissen Diskussionen fanden auch im Parlament, in der Knesset, statt, wo es zu wahrhaft emotionalen Momenten kam, beispielsweise, als Ministerpräsident David Ben-Gurion eine rhetorisch brillante Rede für die Restitution hielt.
Die Opposition gegen die Restitutionen war durchaus parteiübergreifend und umfasste Nationalisten ebenso wie marxistische Zionisten. Schliesslich setzten sich die Verhandlungsbefürworter im Parlament doch recht deutlich durch. Die Abgeordneten der Regierungspartei, der linken Arbeiterpartei, stimmten beinahe geschlossen für Verhandlungen mit Deutschland.
Der stark religiös grundierte Bannspruch („herem“), wie ihn gewisse Kreise gegen die Bundesrepublik einforderten, hat eine lange Tradition im jüdischen Denken. Er ist biblisch begründet. Im Jahre 1492 wurde er beispielsweise auf die spanische Krone angewandt, nachdem diese die ansässigen Juden vertrieben oder zur Konversion zum Christentum gezwungen hatte. Der Bannspruch zog rigide Handelsverbote nach sich. So mancher Amsterdamer Händler hielt sich indessen nicht an den verordneten Bannspruch. Als Konsequenz dafür drohten hohe Bussen oder sogar der Ausschluss aus der Gemeinde.
Wäre also ein „herem“ gegen die Bundesrepublik ausgesprochen worden, hätte Israel mit der BRD keinen Handel mehr treiben dürfen. Das war angesichts der Exportmacht der BRD mehr als eine Illusion. Dan Diner betont in seinem Buch die Zusammenhänge zwischen vormodernem Spanien und der BRD:
„Nach 1945 rückten im jüdischen Gedächtnis Sefarad und Deutschland eng aneinander. Schon im 19. Jahrhundert war eine auffällige Nähe zwischen ihnen imaginiert worden – freilich unter positivem Vorzeichen.“ (S. 40)
Die scharf antideutsche Stimmung im jungen Staat Israel schlug sich in verschiedenen Bestimmungen für die vielköpfige Verhandlungsdelegation nieder. Man wollte direkten Kontakt mit den Deutschen, so gut es eben ging, vermeiden, die offizielle Verhandlungssprache sollte keinesfalls Deutsch sein, obwohl verschiedene israelische Diplomaten und Minister im Kaiserreich aufgewachsen waren und perfekt Deutsch sprachen. Die deutsche Sprache war nach den Verbrechen des Holocaust mehr als in Verruf geraten. Dies zeigte sich auch im israelisch-jüdischen Alltag.
Der Gesprächsverkehr unter den Diplomaten sollte nicht direkt, sondern mittels Dolmetscher erfolgen. Die Atmosphäre am Verhandlungstisch war mehr als frostig, manchmal jedoch wurde das Eis gebrochen, beispielsweise, wenn einige israelische Diplomaten doch entgegen dem Protokoll auf Deutsch wechselten oder sich gegenseitig Zettelchen in deutscher Sprache zusteckten. Als Ort der Vertragsunterzeichnung wurde die „neutrale“ Stadt Luxemburg, die Hauptstadt des gleichnamigen Grossherzogtums, ausgewählt. Eine deutsche Stadt wäre natürlich auf keinen Fall in Frage gekommen.
Verhandlungsorte sollten generell mit Bedacht ausgewählt werden. Gar nicht an diese Spielregeln hielt sich beispielsweise Adolf Hitler. Der nationalsozialistische Diktator liess nach der Kapitulation von 1940 die französische Delegation eigens in einem Wäldchen nahe von Compiêgne zu sich zitieren. Dort, im gleichen Bahnwagen, hatten im Jahre 1918 die Deutschen den für sie demütigenden Waffenstillstand unterzeichnen müssen. Hitler wollte es den Franzosen also mit gleicher Münze heimzahlen und die Schmach von 1918 endgültig tilgen.
Für die BRD unterzeichnete Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) den Restitutionsvertrag. Von ihm war bekannt, dass er den Restitutionen gegenüber durchaus skeptisch war. Konrad Adenauers Unterschrift unter den Restitutionsvertrag war gleichwohl ein Meilenstein in der Geschichte der deutsch- israelischen Beziehungen. Der Anfang für eine gewisse, wenn auch zögerliche Entspannung war gemacht.
Eine verstärkte Diskussion der mannigfachen deutschen Verbrechen an Jüdinnen und Juden setzte in der BRD aber noch nicht ein. Dies geschah erst mit dem Auschwitz-Prozess und dann verstärkt mit der amerikanischen Serie „Holocaust“.
Somit sind die Restitutionsverträge meines Erachtens auch ein Dokument des Verdrängens.
Literatur:
Diner, Dan. Rituelle Distanz.
Israels deutsche Frage.
München: Deutsche
Verlags Anstalt 2015.