Ausgabe

Dokumentieren, Bewahren, Wissen vermitteln Zehn Jahre „JEA – Jüdisches Erbe Austria“, Teil 1

Werner Winterstein

Nachkommen finden mit fach­kundiger Hilfe einer international renommierten Forscherin und ihres Teams des Vereins JEA die vergessenen Grabstätten ihrer ­Vorfahren wieder und erhalten sie für die Zukunft.

Inhalt

Als Tina Walzer vor beinahe fünfundzwanzig Jahren den jüdischen Friedhof Währing zum ersten Mal betrat, erstreckte sich vor ihren Augen eine „gezähmte“  Wildnis – eine Flüchtlingsfamilie hatte im Friedhofswärterhaus Unterkunft gefunden und sammelte im Gegenzug Fallholz ein, mähte und jätete Unkraut. Nach dem Ende des Jugoslawienkriegs jedoch war die Familie verschwunden, und damit auch die kurzzeitige Tag-für-Tag-Pflege des Areals zu Ende.

Zehn Jahre später zeigte sich der ganze Friedhof wieder von der bis zu fünf Meter hohen Unterholz-Vegetationsschicht überwuchert. Just zu dem Zeitpunkt erteilte der Zukunftsfonds der Republik Österreich Tina Walzer den Auftrag, ein Inventar der Zerstörungen aus der NS- Zeit zu erarbeiten, und bald darauf auch ein Gesamtinventar aller auf dem Friedhof noch erhaltenen Grabstellen und Grabdenkmäler. Keine leichten Aufgaben, da im undurchdringlichen Blättergewirr  die meisten Grabstellen nicht einmal sichtbar waren. Nur dank der Unterstützung engagierter Zivilpersonen, darunter sogar U.S.-amerikanische Diplomaten, die für die Forschungen mit ihrer  Gartenarbeit volontierten, und unter grossen Mühen konnten die Inventare erstellt werden. Diese Freiwilligeneinsätze, privat organisiert und auf Tina Walzers persönliche Kontakte beschränkt, schafften seit 2006, das gesamte Areal mehrmals hintereinander vom gröbsten Gestrüpp zu befreien  und so bereits viele Grabmonumente vor dem endgültigen Verfall zu bewahren.

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(von li.) Für die JEA als Vermittlerin Obfrau Tina Walzer, und der Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank Univ.-Prof. Dr. Ewald Nowotny mit dem ausführenden Restaurator Mag. Klaus Wedenig bei der Endabnahme des restaurierten Grabmonuments von Hermann Todesko. Auf Nowotnys Initiative hin wurde das Denkmal des Gründungsaktionärs im Jahr 2018 durch die OeNB restauriert.

Foto: W. Winterstein, mit freundlicher Genehmigung.

Vereinsgründung und Ziele

Aus den Reihen der engagierten Personen um Tina Walzer entschloss sich eine Gruppe, ihre Kontakte und Forschungsunterstützungen zu institutionalisieren:  2009 wurde der Verein „Jüdisches Erbe Austria – JEA“  gegründet. Zweck dieses Vereines ist es laut Statut:

„Zur Bewahrung und wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Friedhöfe in Österreich bezweckt der Verein die Suche nach, Kontaktnahme mit und Information der über die ganze Welt verstreuten Nachkommen der auf den jüdischen Friedhöfen in Österreich Bestatteten, und, wenn nötig, mildtätige Hilfe für diese, die Erforschung und Verbreitung des Wissens über die jüdischen Friedhöfe, ihre Geschichte, Entwicklung, Bedeutung und ihren Zustand, über die Zusammenhänge zwischen den jüdischen Friedhöfen, der Geschichte der dazu gehörigen jüdischen Bevölkerung und den jüdischen Gemeinden sowie der Geschichte und Entwicklung des Landes und der jeweiligen Stadt bzw. Ortschaft und über den Handlungsbedarf zur Bewahrung der jüdischen Friedhöfe aus dem Blickwinkel verschiedener wissenschaftlicher Forschungsdisziplinen und anderer Professionen.  Basis zum Aufbau von Fachwissen und von Kontakten zu Nachkommen ist der jüdische Friedhof Währing in Wien.“

Schon bald war absehbar, dass nur regelmässige, erhaltende Massnahmen den einmal erreichten Zustand stabilisieren würden. Der Verein ging folgerichtig Kooperationen mit ähnlich orientierten Gruppen ein, unter anderem auch mit Mitarbeitern und Mandataren aus den Reihen der Grünen Wien, die in ihrer Freizeit an den bald schon legendären  „Freiwilligentagen“ zur weiteren Erhaltung des Friedhofs beitrugen. Mit anderen Vereinen, Firmen und Institutionen konnte JEA „Pflegepartnerschaften“ auf den Weg bringen und so einen weiteren Beitrag zur Erhaltung der Grabdenkmäler sichern. Nunmehr sind die Grabmonumente sichtbar und zugänglich.

Im Zentrum der JEA-Bemühungen steht die Kontaktaufnahme mit Nachkommen der dort Begrabenen. Sind die physischen (oder auch juristischen) Personen gefunden, lädt sie der Verein im Einvernehmen mit dem Friedhofserhalter zu einer fachkundig geleiteten Besichtigung ein. Viele Familien haben daraufhin den Wunsch geäussert, die gefundenen Grabstellen (Grabsteine, Grüfte, sonstige zugehörige Baulichkeiten) im jeweils notwendigen Umfang - wie Aufstellen, Restaurieren, Ergänzen, Reinigen - auf eigene Kosten wiederherstellen zu lassen, und der Verein unterstützt sie völlig kostenlos in allen notwendigen Belangen. Die finanziellen Aufwendungen der Nachkommen dienen, wohlverstanden, ausschliesslich objektbezogenen Leistungen zur Sanierung der ihnen gehörigen Grabmonumente, und sind sohin keine allgemeinen Spenden oder Kostenbeiträge für die Gesamtanlage als solche. Die überaus wichtige Aufgabe, die Gesamtanlage zu erhalten, hat die Grundeigentümerin vielmehr mittlerweile an einen vor kurzem gegründeten, unabhängigen Verein „Rettet den jüdischen Friedhof Währing“ übertragen, der sich zum Ziel gesetzt hat: „Unterstützung der notwendigen Sanierungsmassnahmen, die Einrichtung eines Museums mit regelmässigen Führungen, um das öffentliche Bewusstsein für diesen so bedeutsamen Ort in Wien zu stärken.“

Internationale Kooperationen

Seit nunmehr zehn Jahren arbeitet JEA erfolgreich an der interdisziplinären Erforschung und Erhaltung der jüdischen Friedhöfe Österreichs, bearbeitet Familienanfragen von Nachkommen, bietet Fachvorträge und Exkursionen.  Dazu zählen inzwischen neben dem Währinger Areal auch die Israelitische Abteilung des Friedhofs Döbling, die Friedhöfe Hietzing und Grinzing, der Urnenhain der Feuerhalle Simmering sowie der Zentralfriedhof. Insbesondere die Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen erweist sich immer wieder als Impulsgeberin für erfolgreiche Wege zur Bewahrung und Erforschung der jüdischen Friedhöfe, wie etwa mit Hamburg, Berlin, Köln, Prag, Zürich, London oder New York. In enger Kooperation mit Wiener Schulen, Wiener und internationalen Universitäten, Museen, Forschungseinrichtungen und Denkmalschutz-Institutionen konnten im In- und Ausland fächerübergreifende Lehrtätigkeit, Symposien, Ausstellungen und Führungen angeregt und ausgeführt werden, die in zahlreichen viel beachteten Fachpublikationen sowie in breitem Medienecho  ihren Höhepunkt fanden.

Lebhaft in Erinnerung sind noch die hochkarätig besetzte ICOMOS Tagung in Berlin „Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa“ sowie das internationale Symposium „Jüdische Friedhöfe – UNESCO Weltkulturerbe“ der Österreichischen Gesellschaft für historische Gärten im Gartenbau-Kino, die länderübergreifende Ausstellung über die beiden jüdischen Friedhöfe Wien-Währing und Hamburg-Altona, die gemeinsam kuratierte Ausstellung der Wiener Institute für Ur- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte, Zeitgeschichte, Juda-
istik, Europäische Ethnologie und Numismatik in der ehrwürdigen Aula des Wiener Universitäts-Hauptgebäudes am Ring, und die „Essence“ Jahresschau der Universität für Angewandte Kunst im Künstlerhaus 2012 mit einer hinreissenden Präsentation der Arbeiten der Institute für Restaurierung und Konservierung sowie Fotografie.

 

Auszeichnungen

Tina Walzer, die JEA-Gründerin, erhielt in Anerkennung ihrer Pionierleistungen um den jüdischen Friedhof Währing eine Reihe von Forschungs- und Publikumsauszeichnungen, darunter den Eduard Duckesz Preis 2014 des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und des Eduard Duckesz Fellows in Hamburg „für ihren Einsatz zur Bewahrung und Erforschung dieses bedeutenden Wiener Jüdischen Friedhofs“, wie es in der Begründung der Jury heisst. Der 8. Wiener Gemeindebezirk kürte sie für ihr Werk  zur Josefstädterin des Jahres 2015, die österreichische Tageszeitung Standard machte sie zum Kopf des Tages.

 

In der kommenden Ausgabe lesen Sie Teil 2:
Denkmäler erhalten. Beispiele erfolgreicher Kooperation zwischen Nachkommen und JEA.

 

Werner Winterstein ist freischaffender Architekt in Wien und Gründungsmitglied des Vereines „Jüdisches Erbe Austria – JEA“. Er war 2006 - 2015 Weltkulturerbe-­Beauftragter für das Welterbe
„historisches Zentrum Wien Innere Stadt.“

Nachlese:

Tina Walzer, Der jüdische Friedhof Währing in Wien. Entwicklung des Areals, Zerstörungen der NS-Zeit, Status quo.
Wien: Böhlau Verlag 2011.

Claudia Theune/Tina Walzer (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal.
Wien: Böhlau Verlag 2011.
Unter google books
online verfügbar.