Ilan Beresin
Johann Hagenhofer /
Werner Sulzgruber / Gert Dressel (Hg.): Eine versunkene Welt.
Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt – Wechselland
Berndorf: Kral-Verlag 2019
288 Seiten, Euro 29,90
ISBN 978-3-99024-797-6
Aus einem 2016 initiierten Forschungsprojekt über die jüdische Bevölkerung der Region der Buckligen Welt und des Wechsellandes – unter Leitung der Historiker Dr. Hans Hagenhofer (Organisation), Dr. Gert Dressel (Oral History) und Dr. Werner Sulzgruber (Wissenschaft − jüdische Geschichte) – ist nunmehr ein umfangreicher Sammelband hervorgegangen, in dem zentrale Ergebnisse erfasst sind. Das Buch ist mit über 200 historischen Fotografien aus Privatbesitz bereichert, wodurch eine hohe Anschaulichkeit erreicht wird. Basierend auf dem Forschungsertrag von tausenden Archivdokumenten, hunderten Fotografien und zahlreichen Zeitzeug/innen-Interviews gelang es, das jüdische Leben in der Zeit der erlaubten Wiederansiedlung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Shoah zu rekonstruieren. Ausgehend von Kontakten zu jüdischen Nachkommen und Shoah-Überlebenden in den USA, Grossbritannien und Israel konnten sogar zusätzliche Verbindungen mit Nachkommen, zum Beispiel nach Argentinien und Kanada aufgebaut werden, sodass sich völlig neue Zugänge zu einigen Biografien eröffneten.
In rund 300 Seiten des hochwertig ausgeführten Buches haben 21 Autor/innen die Geschichte der jeweils von ihnen untersuchten Gemeinde und ihrer jüdischen Bevölkerung festgehalten. Die Herausforderung war es letztlich gewesen, aus dem riesigen Fundus und der grossen Menge an Quellenmaterial auszuwählen, um ein kompaktes Buch vorzulegen.
Wie es Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg in einem Vorwort formulierte, ist dieses Buch „in mehrfacher Hinsicht ein starkes Zeichen“, zum Beispiel „ein Zeichen der Zuversicht, dass es längst nicht zu spät ist, etwas über die jüdische Bevölkerung, sogar im kleinsten Dorf, in Erfahrung zu bringen.“
Und so erfährt der Leser vom durchaus sehr unterschiedlich geprägten und verlaufenden Leben von Jüdinnen und Juden in der Buckligen Welt und im Wechselland: zuerst von der Ansiedlung jüdischer Kaufleute in der Region und vom Wirtschaftsleben, konkretisiert an Gemischtwarenhändlern und kleinen Gewerbetreibenden, aber auch einzelnen jüdischen Industriellen. Denn es waren vor allem Kaufleute, Hausierer und Krämer aus Westungarn, die für sich und ihre Familien im südlichen Niederösterreich eine bessere Zukunft sahen und sich hier niederliessen. Über die Jahrzehnte wuchs die Anzahl der Händler und Gewerbetreibenden – darunter Bäcker, Fleischhauer und Weinhändler – kontinuierlich an. Viele der „Neuankömmlinge“ brachten ihren streng orthodoxen Glauben mit und versuchten diesen zu leben, wodurch es zur Errichtung von privaten Synagogen in Erlach und Krumbach kam. Am Beispiel einiger jüdischer Familien ist zu sehen, dass sich mit viel Fleiss ein wirtschaftlicher Erfolg einstellte. Bis zum frühen 20. Jahrhundert hatte sich auf sozialer, familiärer und ökonomischer Ebene eine Art Netzwerk entwickelt, da verwandtschaftliche Verbindungen über die Region hinaus entstanden und auch Wirtschaftsbeziehungen zwischen Jüdinnen und Juden der Region und darüber hinaus gepflegt wurden.
Beispiele von jüdischen Industriellen sowie Burg- und Schlosseigentümern spiegeln wider, dass man das südliche Niederösterreich sowohl als Standort für Unternehmen sah – wie im Falle des Textilfabrikanten Leopold Abeles in Erlach – als auch als Rückzugs- und Erholungsraum – wie im Falle der Familie Mautner, welche die Burg Feistritz erwarb, oder von Ida Kary, die auf Schloss Eichbüchl bei Katzelsdorf residierte.
Um die Jahrhundertwende avancierten einzelne Ortsgemeinden zu bedeutenden Sommerfrischeorten, so zum Beispiel Kirchberg am Wechsel, oder etablierten sich als Wintersportorte, wie Mönichkirchen. Jüdische Gäste waren zwar dort stets gerne gesehen (unter ihnen finden sich übrigens Carl Djerassi, der spätere Erfinder der Antibabypille, und der spätere Nobelpreisträger Eric Kandel), aber der wachsende „Zuzug jüdischer Sommerfrischler“ wurde damals in antisemitischen Kreisen auch als „Bedrohung“ interpretiert.
Mit dem „Anschluss“ 1938 erfolgte eine einschneidende Zäsur, die für die rund 130 einst in der Region lebenden Jüdinnen und Juden eine rasche Änderung der Verhältnisse mit sich brachte. Deshalb wird der Darstellung der Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung im Sammelband ebenso Raum gegeben wie dem Nachzeichnen der verschiedenen Folgen für die betroffenen Menschen und ihrer Schicksalswege. Mit dem Buch „Eine versunkene Welt“ hat die jüdische Bevölkerung der Buckligen Welt und des Wechsellandes gleichsam wieder ein Gesicht und eine Stimme bekommen und erhält damit auch einen wichtigen Platz in der Geschichte und im Gedächtnis der Region.