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Das Ende des Exils? Briefe von Frauen nach 1945.

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Irene Below / Inge Hansen-Schaberg / Maria Kublitz-Kramer (Hgn.): Das Ende des Exils? Briefe von Frauen nach 1945.

Frauen und Exil, Band 7

München: Edition Text + Kritik 2014

240 Seiten; Euro 24,00

ISBN 978-3-86916-373-4

Man kann darüber schreiben, aber man kann nicht erzählen, wie es wirklich war", bekannte die deutsch-jüdische Schriftstellerin Grete Weil (1906-1999), als sie, fortgeschrittenen Alters, ihr Leben Revue passieren liess. Zermürbende 18 Monate lang, bis zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945, hatte sie in Amsterdam ausgeharrt, teils versteckt hinter einer Bücherwand. Zahllose FreundInnen und Familienangehörige, unter ihnen Edgar Weil, ihr erster Ehemann, waren von den Nazis ermordet worden. Und doch kehrte Weil 1947 - unter heftigstem Widerstand ihrer Mutter und vieler FreundInnen  -  nach Deutschland zurück, an den Ort, den sie selbst zum „Land meiner Mörder" zugleich aber, für sie als Schriftstellerin überlebenswichtig, voll innerer Zerrissenheit zum „Land meiner Sprache" erklärte.

Was aber veranlasste Weil überhaupt zur Rückkehr ins „Land ihrer Mörder"? Und: War mit ihrer Remigration das Exil tatsächlich beendet? Wie erlebten Leidensgenossinnen die ersten Jahre nach dem 8. Mai 1945? Welche Konflikte und Brüche, welche versuchten, geglückten und gescheiterten Neuanfänge die vermeintliche „Stunde Null" im Leben Grete Weils und rund 15 weiterer deutschsprachiger Emigrantinnen heraufbeschwor (u.a. Hilde Spiel, Minna Specht, Vera Lachmann, Ilse Bing), wie sie über das schrieben, was sie eigentlich nicht erzählen konnten, untersucht der neueste Tagungsband der AG „Frauen im Exil" der deutschen Gesellschaft für Exilforschung e. V. aus gendersensibler Perspektive. Das Besondere: In Ergründung der Frage, ob das Ende des Zweiten Weltkrieges überhaupt jemals das Ende des Exils einläutete, nutzen die Herausgeberinnen Irene Below, Inge Hansen-Schaberg und Maria Kublitz-Kramer eine wissenschaftlich bisweilen vernachlässigte Quelle - sog. Erste Briefe: Briefe also, die die Exilantinnen seit Mai 1945 nach mitunter jahrelangem, NS-oktroyiertem Kontaktabbruch entsandten und die einen -  zumindest zeitlich -  unverfälschten, fragmentarischen Eindruck von den Nöten, Ängsten, Hoffnungen und Zielen ihrer Absenderinnen vermitteln. Die Konzentration auf „Erste Briefe" kontert einem, u.a. von der US-amerikanischen Historikerin Atina Grossmann kritisierten Desiderat: Allzu oft wird unser Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit von Projektionen aktuellerer Forschung verwässert. Autobiographien können dabei kaum als Korrektivum dienen. Auch sie wurden meist aus grosser zeitlicher Distanz verfasst und waren ähnlichen Adaptionsprozessen unterworfen. „Die persona der Briefe", betont auch Franziska Meyer in ihrem Tagungsband-Beitrag zu Grete Weil, sei „eine andere als die spätere, dann bekanntere" Weil, „die wir z.B. aus ihrer Autobiografie" kennen. Das Ende des Exils? Briefe von Frauen nach 1945" knüpft thematisch an den 2013 erschienenen Vorgängerband der Reihe „Frauen und Exil"1 an  und ist keinesfalls die erste Publikation, die sich auf frühe Nachkriegsbriefe von ExilantInnen fokussiert. Vor rund 10 Jahren, beispielsweise, initiierten David Kettler et al. das Forschungsprojekt „First Letters / Erste Briefe", auf das sich Below, Hansen-Schaberg und Kublitz-Kramer ausdrücklich berufen. Kettler et al. blendeten Frauenviten allerdings nahezu aus - u.a. weil, wie Kettler im Tagungsband argumentiert, Frauen „in der Weimarer Republik nur selten als Intellektuelle anerkannt" worden seien und damit „die minimale Anerkennung" gefehlt habe, „die für Schriftwechsel, wie wir sie untersucht haben", erforderlich gewesen wäre. Below, Hansen-Schaberg und Kublitz-Kramer widersprechen dieser These nicht explizit. Doch sie betonen, Frauen hätten im Exil trotzdem „in welchen Berufsfeldern auch immer, Spuren ihrer Erfahrungen und Reflexionen auch in Form von Briefen hinterlassen, die wichtige Erkenntnisse über Exil und Nachkriegssituation" lieferten. Das zu dokumentieren ist den Herausgeberinnen mit Bravour gelungen, ebenso der Nachweis, dass, bei aller - zu Recht - fortwährend akzentuierter Unterschiedlichkeit der Lebensläufe, eine winzige Gemeinsamkeit auszumachen ist: In keiner der analysierten Biographien liess sich der 8. Mai 1945 als Startschuss zu einem behaglichen Normleben lesen. Die alte Heimat blieb meist fremd, die neue kaum minder. Keimten hier und da Sentimentalitäten auf, waren diese nicht selten, wie Franziska Meyer treffend analysiert, als „Sehnsucht nach (...) einer verlorenen Heimat, die einzig die Landschaft meint" zu dechiffrieren. Fast scheint es, als sei die Mehrheit der präsentierten Frauen - eine Formulierung aus Rosa Pérez Zancas Beitrag zur österreichischen Schriftstellerin Hilde Spiel (1911-1990) aufgreifend - „Emigrantinnen auf Lebenszeit" geblieben.

Die allseitige Betonung der Einzigartigkeit der Lebensläufe, die konsequente Negierung jedes Übertragbarkeits-Konstruktes ist ein besonderes Verdienst des Bandes: „Die Situation jüdischer Überlebender im Europa nach Auschwitz sperrt sich gegen jede kohärente Erzählung beim Blick auf die individuellen Biografien", untermauert Franziska Meyer das Anliegen der Herausgeberinnen. Markante ereignis-, umgebungs- und persönlichkeitsgebundene Unterschiede spiegeln sich insbesondere bei den Remigrations-Motiven und den Zeitspannen, die bis zur selten vollzogenen Rückkehr verstrichen wider: Hilde Spiel haderte 17 lange Jahre mit sich, Grete Weil zwei. Die Sozialistin und Pädagogin Minna Specht (1879-1961) entschloss sich bereits Weihnachten 1945 zur Remigration, um „den Systemen unter die Mütze (zu) gucken" und als Leiterin der Odenwaldschule ein „besseres" Deutschland mitzugestalten. Die Option zur Umkehr der Rückkehr allerdings hielt sie sich offen. Letztlich blieb sie - und fühlte sich doch nie mehr heimisch. Hatte Minna Specht Deutschland gleich 1933 aus politischer Überzeugung den Rücken gekehrt, harrte die deutsch-jüdische Philologin und Lyrikerin Vera Lachmann (1904-1985) bis zur buchstäblich letzten Sekunde 1939 in ihrer Heimat aus, um dann allerdings, nach 1945, eine Remigration kategorisch auszuschliessen: „Deutschland ist nicht zu retten", befand sie. Insbesondere den KZ-Tod ihrer Mentorin Helene Herrmann konnte und wollte sie nicht vergessen. Ganz anders dagegen Grete Weil: Gerade weil die Nazis ihren Ehemann ermordeten, sah sie sich in der Pflicht nach Deutschland zurückzugehen, um, Minna Specht vergleichbar, an dessen Neugestaltung mitzuwirken. Reflektierte Vielfalt lassen die Herausgeberinnen nicht zuletzt bei der Auswahl der EmpfängerInnen der „Ersten Briefe" walten: Walter Jokisch, Grete Weils Korrespondenzpartner und späterer Ehemann, entpuppt sich als Prototyp des vielzitierten selbstmitleidig-apathischen Nachkriegs-Deutschen, der Exil- mit Luxus-Leben verwechselte und Mitgefühl bestenfalls für sich selbst aufbrachte; „mein kleiner Egoist" oder „Büblein, ich glaube im Augenblick bin ich die von uns beiden, die Hilfe mehr nötig hat", massregelte Weil ihn mitunter. Deutlich empathischer zeigte sich die Briefpartnerin der Fotografin Ilse Bing (1899-1998), die Künstlerin Ella Bergmann-Michel (1895-1971). Bing war 1939 nach New York geflohen und gehörte zu der überwältigenden Mehrheit deutschsprachiger ExilantInnen mit jüdischen Wurzeln, die nicht in ihr Ursprungsland zurückkehrten. „...ich scheue mich so schrecklich vor Deutschland", gestand sie Bergmann-Michel, die meistens einfühlsam reagierte, nichts schönzureden versuchte. Die Nazis hatten Bings Familie nahezu komplett ausgelöscht. Fünf Jahre schmerzhaften Anlaufs benötigte sie, um Bergmann-Michel in Deutschland zu besuchen. Am Ende aber, so Beiträgerin Irene Below, seien beiden Frauen, dank der Briefe und der Besuche, „entscheidende Schritte zur ‚Reparatur eines beschädigten Lebens (Garz/Kettler)" geglückt. „Es war schlimmer als man es sich vorstellen konnte", resümierte Bing mit 90 Jahren, „aber menschlich bin ich gewachsen." Ein ausgesprochen versöhnliches Lebensresümee. Fast übermenschlich versöhnlich.

Weiterführende Informationen zu der in Deutschland ansässigen Gesellschaft für Exilforschung e.V. und der zugehörigen AG „Frauen im Exil" 

unter: http://www.exilforschung.de/index.php?p=17

1 Hiltrud Häntzschel, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger, Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.): Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil. München 2013.