Ausgabe

ROSCH HASCHANA 5776/2015

Rabbiner Joel BERGER

Content

Rosch Haschana, die Neujahrstage, wecken Erinnerungen in uns, lassen uns in unsere Vergangenheit hineinhorchen, um das Fest seinen Traditionen gemäss aufs Neue gestalten zu können.  Das Bild aus der Vorstellungswelt unserer Ahnen erscheint vor unseren Augen:  Alle Weltbewohner ziehen, wie bei einer Heeresschau, vor dem Allmächtigen vorüber, wie auch verheissen wurde:  „Er ist, der ihr Herz in Eintracht erschuf.  Er ist es, der auf all ihre Taten blickt...". Das Zitat stammt aus der Mischna - aus dem ältesten Teil der nachbiblischen, rabbinischen Literatur. Von hier aus fand es den Weg in eine bedeutende Stelle des Festtagsgebetbuches. Die Farben dieser bildhaften Darstellung gewannen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter an Frische. Die spätere Zeit bereicherte das Bild durch eine Hirtenidylle: Wie der Hirte die zarten Lämmer aus dem Pferch durch eine schmale Öffnung ziehen lässt, sie alle einzeln prüfend, auf ihre Wege leitet... ja, so etwa stellen wir uns zum Anbruch eines Neuen Jahres ein - wir stellen uns unter die Obhut des Herrn der Gnade und Barmherzigkeit. Und wir stellen uns unseren Taten, Handlungen des abgelaufenen Jahres, wir wollen sie auch nochmals prüfen und uns womöglich im Neuen Jahr ändern, bessern.

Das jüdische Neujahrsfest, wie auch der darauffolgende Jom-Kippur/Versöhnungstag besitzen eine reiche Palette an volkstümlichen Sitten und Bräuchen, die sich vornehmlich dazu eignen, die festliche Stimmung in uns zu stärken und zu festigen.  Über einige von ihnen möchte ich sprechen:

In den Tagen vor Rosch Haschana, vor dem Neujahrsfest, ist es Sitte, auf den jüdischen Friedhöfen die Gräber der Eltern und Grosseltern zu besuchen.  An den Gräbern sollte sich der Besucher pietätvoll mit dem frommen Lebensweg der Ahnen erneut verbinden, um an den Hohen Feiertagen mit reinem Gewissen um Gnade für uns flehen zu können. Angesichts dieser Sitte kann ich nicht verschweigen, dass es für viele von uns unmöglich gemacht wurde, ihr heute Folge zu leisten. Wie könnten sich denn all diejenigen am Grabe ihrer Eltern rüsten, die nicht einmal wissen, wo ihre Eltern, Grosseltern umgebracht wurden und ob sie irgendwo ihre letzte Ruhe fanden, oder ihre Asche aus den Krematorien in alle Windrichtungen verweht wurde... In vielen Gegenden Mittel- und Osteuropas befinden sich jedoch nicht wenige KZ - Friedhöfe, wo unzählige Märtyrer unseres Volkes begraben wurden. Diese werden kaum von den Angehörigen aufgesucht werden können, weil auch ihr Andenken grausam ausgelöscht wurde.  Anstelle dieser Kinder pflegen wir ihre Denkmäler aufzusuchen, um einen Psalm des Gedenkens für sie zu sprechen.

Vielerorts ist es üblich, vor den Feiertagen das Ritualbad, auch „Mikwe" genannt, aufzusuchen.   Durch diesen Besuch soll zum Ausdruck gebracht werden, dass nach Auffassung unserer Meister die seelische Reinheit und die körperliche Hygiene und Sauberkeit in einer starken Verbindung stehen.  Die Reinheit unserer Seele und unseres Gewissen zurückzugewinnen wird durch diese Feiertage angestrebt.

Die Speisekarte der Festtage ist besonders reichlich und auch symbolträchtig.  Inmitten der Gaumenfreuden an der festlich gedeckten Tafel sollte man sich auch die Inhalte dieser Tage vergegenwärtigen. Unser Festmenü beginnt nicht mit der Vorspeise, sondern mit dem Brechen des Brotes. Zu Ehren des Festes wird die Challe, oder Barches, - so wird der „Mohnzopf" bei uns genannt, rund geformt, - oft mit Rosinen bestreut, damit es etwas süsser schmeckt, - da wir uns ein süsses Jahr wünschen. Ein Jahr ohne Bitternis. Nichtjuden würden den Grundsatz, der unsere Mahlzeiten beherrscht, als „sympathische Magie" bezeichnen, weil wir häufig solche Speisen zu uns nehmen, deren Name, Geschmack und Form angenehme Gedanken betreffend unsere Zukunftshoffnungen erwecken könnte. Daher die Rosinen im Festbrot, das nach dem Segensspruch auch noch in Honig getaucht wird. Und nicht in Salz, wie im Laufe des Jahres üblich. Aus dem gleichen Grund werden in Honig getauchte Apfelscheiben an die Tischgemeinschaft gereicht. Der traditionelle Kuchen für Rosch Haschana ist der Honig Lejkach. Vielerorts wird zuweilen ein symbolisches Stück von einem Fischkopf mit den Worten serviert: „Möge es Dein Wille sein, dass wir zum Kopf und nicht zum Schwanz werden." Ein weiterer Brauch ist das Essen von Granatäpfeln, die viele Kerne enthalten. Dazu sagt man: „Möge es Dein Wille sein, dass unsere Verdienste sich wie der Granatapfel mehren."

Einen besonderen Grund hat auch die Tatsache, dass Karotten, bzw. Möhren, eine feste Beilage des Festes bilden. Auf Jiddisch, der Volkssprache der Juden Osteuropas, heissen sie „Zimmes", jedoch in Böhmen und Mähren wurden diese „Mehren" ausgesprochen, und so sollten diese uns das „Mehren" unserer Verdienste in den Sinn bringen...

Jedoch das wichtigste Symbol und „Gerät" des Festes ist der Schofar, das Widderhorn, das inmitten der Festliturgie, aufgrund einer Anordnung der Tora, geblasen wird, um unser Gewissen wachzurütteln.

Kurzvita:

  

Landesrabbiner a.D. Dr. Joel Berger

  

Joel Berger wurde 1937 in Budapest geboren und emigrierte 1968 nach Deutschland. Seither war er als Rabbiner in Düsseldorf, Göteborg (Schweden), Bremen, und Stuttgart tätig.

  

Er ist Hochschuldozent am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen, die ihm auch den Ehrendoktortitel verlieh. Dem Autor verschiedener Arbeiten über jüdische Geschichte und Volkskultur wurde 2001 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg verliehen. Heute arbeitet Joel Berger für das Haus der Geschichte Baden-Württemberg und ist mit seiner Frau Noémi Kurator der Jüdischen Kulturwochen in Stuttgart. Berger ist langjähriges Mitglied des Rundfunkrates, sowohl bei Radio Bremen, als auch SDR/SWR. Weiters ist er Sprecher der Rabbinerkonferenz Deutschland a. D.

Bis 2008 war Joel Berger Mitglied im Schiedsgericht des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herausgeber und Mitglied im Rundfunkrat von Radio Bremen sowie SDR und SWR (von 1974 bis 2003 und ab 2008 bis 2013). Seit 2013 ist er Mitglied des Medienrates der LFK Landesanstalt für Kommunikation.

Zahlreiche Veröffentlichungen über Geschichte und Kulturgeschichte des Judentums.