Am 23. Juni 1935 versammelten sich in Graz rund 500 ehemalige jüdische Soldaten der k.u.k. Armee, zahlreiche Honoratioren der steirischen Politik und Gesellschaft, Vertreter des österreichischen Bundesheeres sowie Abordnungen von verschiedenen steirischen Kameradschaftsverbänden. Der Grund dieser öffentlichen und von zahlreichen Zeitungsberichten begleiteten Veranstaltung war die Einweihung und Enthüllung eines Heldendenkmals für die gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges. Eingeladen zu dieser Demonstration österreichisch-jüdischen Selbstbewusstseins in Zeiten zunehmenden Antisemitismus und der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Nationalsozialismus hatte die für den Bau des Denkmals verantwortliche Ortsgruppe des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs (BJF).1
Heldendenkmal am jüdischen Friedhof in Graz-Wetzelsdorf. Entwurf: Ing. Eugen Székely 1935. Mit freundlicher Genehmigung G. Lamprecht.
Auch wenn das Grazer Heldendenkmal nicht das erste seiner Art in Österreich war und seit 1919 bereits in zahlreichen Städten mit jüdischen Gemeinden Heldendenkmäler oder Gedenktafeln errichtet worden waren, so nimmt es neben dem imposanten, im Oktober 1929 eingeweihten Heldendenkmal am Wiener Zentralfriedhof doch eine herausragende Position innerhalb der österreichischen und jüdischen Denkmal- und Erinnerungslandschaft ein. Denn in seiner Entstehungsgeschichte ebenso wie in den Einweihungsfeierlichkeiten und Gedenkritualen verdichten sich wesentliche Elemente jüdischer Kriegserinnerung der letzten hundert Jahre. Die mit der Erinnerung an die jüdischen Opfer des Krieges verbundenen Erwartungen und Hoffnungen ebenso wie die Problemfelder werden sichtbar.
Vorgeschichte und Akteure
Erste Überlegungen über geeignete Formen der Erinnerung an und Ehrung von gefallenen jüdischen Soldaten werden bereits einige Monate nach Kriegsbeginn angestellt. Dabei kommt mit Blick auf die späteren Denkmalssetzungen vor allem der Frage nach der Beerdigung, konkret dem Ort der Beerdigung, der gefallenen jüdischen Soldaten in den Kampfgebieten ebenso wie im Hinterland eine entscheidende Rolle zu. Die innerhalb der jüdischen Gemeinden und in den deutschsprachig-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften geführten Diskussionen nahmen dabei stets Bezug auf die allgemeinen Überlegungen über Formen einer würdigen und das massenhafte Sterben legitimierenden und erklärenden „Heldenehrung". Diese mündeten in einem Gefallenenkult, bei dem der Tod des Einzelnen als Heldenopfer für die Gemeinschaft, die Nation, das Vaterland überhöht wurde.2 In einem Akt der Egalisierung und gleichermassen Demokratisierung sollten alle Gefallene unabhängig ihres militärischen Ranges, ihrer sozialen Herkunft oder religiösen Zugehörigkeit in gleicher Weise als egalitäre „Söhne der Heimat" erinnert werden. Ausdruck dieser neuen Form des Erinnerns und Gedenkens waren die Heldenfriedhöfe und Gefallenendenkmäler. So sollten Heldenfriedhöfe interkonfessionell sein und mit ihren geleichförmigen Grabsteinen die Gleichheit und Gemeinschaft der Gefallenen unterstreichen. Auf den Denkmälern sollte fortan nicht mehr nur der Generäle gedacht werden, sondern es sollten die Namen aller Gefallenen ohne Nennung ihres sozialen oder militärischen Ranges aufgelistet sein.
Heldengedenkfeier in Graz 1935. Aufstellung auf dem jüdischen Friedhof: Bundesheer, Schutzkorps, Kameradschaftsverbände und die Abteilungen des Bundes. Quelle:Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien 1935.
Doch eben diese Form des Egalitarismus löste innerhalb der jüdischen Gemeinden grundlegende Diskussionen aus, berührte sie doch die seit Jahrzehnten diskutierte Frage inwieweit die jüdische Gemeinschaft im Bemühen um eine Integration in und Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft ihr Judentum transformieren solle. So bedeutete die Einladung zur Beerdigung der Gefallenen jüdischen Soldaten auf gemischtkonfessionellen Heldenfriedhöfen, die jedoch zumeist eine christlichen Symbolik folgten, auf der einen Seite die Erfüllung des lange angestrebten Zieles der gesellschaftlichen Anerkennung als gleichwertige Bürger. Auf der anderen Seite ging mit diesem Schritt jedoch auch eine Aufgabe jüdischer Eigenheiten, vor allem in Hinblick auf die Einhaltung religiöser Gebote einher und weckte zudem Ängste und Befürchtungen in Bezug auf erwartete antisemitische Anfeindungen ebenso wie vor einer christlichen Vereinnahmung.
Heldengedenkfeier in Graz 1935: Marsch durch die Innenstadt zum jüdischen Friedhof. Quelle: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien 1935.
Sehr klar kommt dieser Zwiespalt, in dem sich die jüdischen Gemeinden befanden in einem Leserbrief in Dr. Blochs Österreichsicher Wochenschrift vom Jänner 1915 zum Ausdruck. Darin nimmt der Autor auf Pläne zur Errichtung eines interkonfessionellen Heldenfriedhofes der Stadt Wien Bezug:
„... Es ist gewiss hoch zu schätzen, dass die Gemeinde Wien zwischen den Helden, die ihr Leben fürs Vaterland geopfert haben, keinen Unterschied machen und die alle gleichmässig ehren will. Trotzdem würde ich mir gestatten, die Anregung zu geben, eine Anzahl jüdischer Gefallener, möglichst in eine Gruppe geordnet, auf der jüdischen Abteilung zu beerdigen, schon aus dem Grunde, dass es uns ermöglicht werde, in ruhigen Zeiten auch die jüdische Friedhofsabteilung durch ein Kriegerdenkmal zu ehren, damit der Mangel eines solchen bei der nächsten und nächstnächsten Generation nicht unliebsam auffalle und ein späterer Knabe nicht etwa seinen Vater fragen müsste: ‚Haben die Juden im Jahre 1914 nicht mitgekämpft, weil auf dem jüdischen Friedhofe kein Kriegerdenkmal steht?!"3
Religiöse Bedenken, Ablehnung einer christlichen Vereinnahmung ebenso wie die Notwendigkeit der symbolischen Repräsentation der jüdischen Gefallenen als Argument gegen erwartete antisemitische Angriffe, veranlassten letztlich die Wiener jüdische Gemeinde ebenso wie jene in Graz und zahlreiche weitere, die gefallenen jüdischen Soldaten auf eigenen Heldenabteilungen innerhalb ihrer Friedhöfe zu beerdigen.4 Diese Heldenabteilungen waren dann ab 1918/19 auch der Ausgangspunkt für die Errichtung von eigenen jüdischen Heldendenkmälern.
So diskutierte man in Graz ab 1919 innerhalb der Chewra Kadischa und der Kultusgemeinde immer wieder die Frage der Errichtung einer Gedenktafel oder eines Denkmales. Zwar konnte man sich 1919 rasch auf das grundsätzliche Ziel der Denkmalsetzung einigen5, doch die wirtschaftlich schwierige Situation in den Nachkriegsjahren liess eine Realisierung nicht zu. Erst 1925 konnte man zunächst einheitliche Grabsteine innerhalb der Heldenabteilung setzen6, ehe 1933 mit der Gründung der Grazer Ortsgruppe des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs eine tatsächliche Realisierung des Denkmales in Angriff genommen wurde.7 Um dieses nach den Plänen des Grazer Architekten und Mitglieds des BJF, Eugen Székely8, errichten zu können, wurde im Juli 1934 ein Spendenaufruf veröffentlicht.9 Letztlich dauerte es noch beinahe ein Jahr, bis Ende Juni 1935 das Denkmal fertiggestellt und eingeweiht werden konnte.10
Dieses Denkmal in Form einer Marmorplatte zwischen zwei Steinsäulen wurde inmitten von 48 gleichförmigen Grabsteinen im Zentrum der Heldenabteilung am jüdischen Friedhof in Wetzelsdorf errichtet. Am Beginn der Marmortafel steht in hebräischer Sprache die Widmungsinschrift: „Ein Denkmal für die Helden der Armee, die im grossen Krieg gefallen sind." Es folgen ihr die deutsche Inschrift „Fürs Vaterland opferten im Weltkriege 1914 - 1918 auf allen Kriegsschauplätzen ihr Leben" sowie zunächst die 37 Namen all jener Gemeindemitglieder, die im Krieg gefallen und an den jeweiligen Frontabschnitten beerdigt wurden. Anschliessend sind noch die Namen der 48 auf der Heldenabteilung beerdigten Soldaten angeführt. Den Abschluss bildet die für jüdische Grabsteine übliche Abkürzung des Schlusssegens in Anlehnung an das erste Buch Samuel 25,29: „Ihre Seele mögen eingebunden sein in den Bund des ewigen Lebens".11 Neben dem Wappen des BJF ziert die Marmortafel zentral noch ein Davidstern.
Einweihung
Die Einweihung selbst wurde als öffentlicher Akt mit Parade und Appell gross inszeniert. Sie war eine „vaterländische Kundgebung der steirischen Judenschaft", eine Demonstration jüdischen Selbstbewusstseins und Wehrwillens in der Landeshauptstadt Graz und sollte ein „Bekenntnis zu Heimat und Glauben", wie es im entsprechenden Bericht in der Zeitschrift des BJF, der Jüdischen Front, heisst, sein.12 Die Feierlichkeit ebenso wie die Ansprachen verwiesen dabei stets auf die doppelte Zielrichtung jüdischen Heldengedenkens: Denn jüdischer Kriegsdienst ebenso wie der Tod jüdischer Soldaten auf dem Schlachtfeld waren für die jüdischen Gemeinden und im besonderen Masse für den Bund jüdischer Frontsoldaten Zeugnis und Beweis für den unverbrüchlichen Patriotismus als auch für ein starkes und selbstbewusstes Judentum. Die Erinnerung an die Gefallenen sollte das Anrecht der Jüdinnen und Juden auf einen Platz innerhalb der österreichischen Gesellschaft und des Staates als selbstbewusste österreichische Jüdinnen und Juden untermauern. Das Gedenken war sowohl gegen antisemitische Angriffe von aussen gerichtet als auch als Appell an die jüdische Gemeinschaft nach innen zu verstehen, sich in Zeiten der zunehmenden Gefährdung ähnlich wie damals im Krieg zu vereinigen, um gestärkt und geschlossen gegen die antisemitischen Feinde vorzugehen. Eine Geschlossenheit die man aber auch von den nichtjüdischen Kameraden in Anlehnung an den gemeinsamen Kampf und das gemeinsame Schützengrabenerlebnis einforderte.
Dementsprechend beschworen die zahlreichen Redner beginnend mit dem Landesführer des BJF in der Steiermark Ing. Ernst Wechsler, gefolgt von Landesrabbiner Univ.-Doz. Dr. David Herzog, dem Bundesführer-Stellvertreters und Wehrführer des BJF Dipl.-Kfm. Ernst Stiassny, dem Präsidenten der IKG Graz Dr. Robert Sonnenwald, dem Landesleiter der Vaterländischen Front Dr. Alfons Gorbach, dem Gauführer der Ostmärkischen Sturmscharen Dr. Huber sowie weiteren Vertretern von Veteranenverbänden, stets die Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe der jüdischen Soldaten ebenso wie die unverbrüchliche Kameradschaft.13 Vor allem der Weiherede von Rabbiner Herzog wurde in der Berichterstattung besonderes Augenmerk geschenkt, stellte er diese doch unter das Motto des Patriotismus und des Friedens.14 Im Kern hielt er fest:
„Ohne als Feigling oder Schwächling zu gelten, müsse man im Namen der Opfer des grossen Krieges die Stimme nach Frieden erheben, nach einem Band, das in Liebe, Hilfsbereitschaft und Achtung die Menschheit umschlinge. Es heisst, sich gegenseitig die Hände reichen, um unser geliebtes Oesterreich zur höchsten Entfaltung bringen zu können. An das soll das Heldendenkmal gemahnen: es solle ein Trost den Alten sein, dass sie sich ihrer Kinder nicht zu schämen brauchen, und den Jungen eine Aufforderung, dass wenn das Vaterland wieder ruft, sie Gut und Blut für dasselbe opfern müssen."
Herzog und alle weiteren Redner verbanden die Erinnerung an die gefallenen jüdischen Soldaten mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen. Sie sollte letztlich Garant für ein selbstbewusstes jüdisches Leben in Österreich sein und die nichtjüdische meist christliche Gesellschaft daran erinnern, dass man gemeinsam für das Vaterland kämpfte und nun auch gemeinsam gegen die antisemitischen Anfeindungen vorgehen solle. Es war ein Appell an ein gemeinschaftliches Zusammenleben, der letztlich ins Leere ging. Denn spätestens mit dem „Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland wurden die Jüdinnen und Juden aus eben dieser Gesellschaft und diesem Staat, für den sie gekämpft hatten, vertrieben und die Erinnerung an ihre Kriegsdienstleistung weitgehend ausgelöscht. Viele jüdische Heldendenkmäler und Gedenktafeln wurden von den Nationalsozialisten zerstört. Wenn Sie die Jahre bis 1945 überstanden so gerieten sie in der Nachkriegszeit weitgehend in Vergessenheit. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden diese Denkmäler langsam wiederentdeckt und die Erinnerung an die jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges wachgerufen. Und so wird seit 1995 vom Österreichischen Bundesheer im Rahmen des alljährlichen Totengedenkens zu Allerseelen am Grazer Heldendenkmal ein Kranz niedergelegt.15
1 Zur Geschichte des BJF vgl. u.a. Helmut Senekowtisch, Verbunden mit diesem Lande. Das jüdische Kriegerdenkmal in Graz, Graz 1995; ders., Gleichberechtigte in einer grossen Armee. Zur Geschichte des Bundes Jüdischer Frontsoldaten Österreichs 1932-1938, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift, Jg. 6 (September 1994) Nr. 22, 24-31; Gerald Lamprecht, Geteilte Erinnerung? Der Bund jüdischer Frontsoldaten, in: Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer (Hrsg.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012, 87-104; Erwin A. Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten 1788-1918, Wien-Köln-Weimar 2014, 146-155. Ein Umfangreicher Aktenbestand zum BJF befindet sich noch immer im Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGWA) in Moskau.
2 Vgl. George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, 102-116.
3 Hermann Stern, Ein jüdisches Kriegerdenkmal, in: Dr. Bloch`s Oesterreichische Wochenschrift, 8.1.1915, 24-25.
4 Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 15.2.1916. RGWA, 709-1-7
5 Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 12.3.1916. RGWA, 709-1-7
6 Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 10.6.1925. RGWA, 709-1-7
7 Vgl. zur Ortsgruppe Graz des BJF. RGWA, 672-1-293.
8 Zu Eugen Székely vgl. Antje Senarclens de Grancy, Eugen Székely, in: Antje Senarclens de Grancy/Heidrun Zettelbauer (Hrsg.), Architektur.Vergessen. Jüdische Architekten in Graz, Wien-Köln-Weimar 2011, 253-271.
9 Aufruf!, in: Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, Jg. 9 (Juli 1934), Nr. 4, 3.
10 Die jüdische Heldengedenkfeier in Graz, in: Jüdische Front, 1.7.1935, 7-8, hier 7.
11 Auf das Nachziehen der Abkürzung des Abschlusssegens wurde bei der Renovierung des Denkmals leider vergessen.
12 Die jüdische Heldengedenkfeier in Graz, in: Jüdische Front, 1.7.1935, 7-8, hier 7.
13 Die jüdische Heldengedenkfeier in Graz, in: Jüdische Front, 1.7.1935, 7-8, hier 7.
14 Vgl. Für Österreich, für den Frieden!, in: Die Wahrheit. Jüdische Wochenschrift, 5.7.1935, 3.
15 Vgl. Manfred Oswald, Traditionspflege von Widerstand und Verfolgung im österreichischen Bundesheer, in: DÖW Jahrbuch 1997, 180-185; hier 182f.