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„Den anderen Menschen zum Trotz“

Claus STEPHANI

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Wenn der Holocaust als „einzigartig" in der Geschichte der Menschheit bezeichnet wird, steht dieses Adjektiv, das keine Steigerung mehr zulässt, oft einsam da in einer Landschaft von anderen, ähnlichen Worten, wie einmalig, unvergleichlich, unbeschreiblich, beispiellos usw., die aber nicht gleichwertig sind, auch wenn man sie gern als vergleichend heranzieht. Denn die Dimension des Verlusts an Menschen und Werten in allen Bereichen - so auch in Kunst und Kultur -, lässt sich in diesem Fall nicht mehr in Worte fassen. Und beim näheren Hinschauen muss jedes hinkende Synonym, das unbedacht daherkommt, den Sprachgebrauch auch gleich wieder verlassen. Daran muss der Verfasser dieser Zeilen immer wieder denken, wenn es um Künstlerschicksale geht, wie zum Beispiel jene von Felix Nussbaum, Bruno Schulz, Otto Freundlich, Malva Schalek, Arthur Ritov und von vielen anderen, deren Lebensweg einst frühzeitig durch die Nazis  beendet wurde. Eine jiddische Publikation, die 1951 in Paris erschien, nannte einmal über 200 Namen namhafter bildender Künstler, die so zu Tode kamen. Doch das ist „nur" eine Zahl in einer Statistik, die, wie man vor kurzem sehen konnte, nicht „vollständig" ist und es auch niemals sein kann. Denn immer wieder tauchten in den letzten Jahrzehnten aus dem Dunkel der Vergessenheit Namen auf, deren spätes Licht ein noch unbekanntes künstlerisches Werk für die Nachwelt sichtbar macht. So ein Name ist Charlotte Salomon.

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Charlotte Salomon zeichnet im Garten in Villefranche, um 1939, Foto. Slg. Jüdisches Historisches Museum Amsterdam, Copyright Stiftung Charlotte Salomon. Mit Genehmigung des Rupertinum MdM, Salzburg.

Ihr thematisch vielfältiges Schaffen als Zeichnerin und Malerin ist nun im Rupertinum (Museum der Moderne Salzburg) im Bilderzyklus „Leben? oder Theater" zu sehen1. Aus insgesamt 1325 Gouachen, die Charlotte Salomon zwischen 1940 und 1942 im französischen Exil schuf, wird in Salzburg - eingerichtet von Kuratorin Beatrice von Bormann -  eine repräsentative Auswahl von 278 Blättern gezeigt. Es ist eine einmalige künstlerische Dokumentation deutsch-jüdischen Lebens im Berlin der 1920er und 1930er Jahre und danach; es sind farbig leuchtende Bilder aus einem Lebenswerk, das in nur zwei Jahren entstanden ist, oder in dieser knapp bemessenen Zeitspanne entstehen musste, weil das Dasein der jungen Künstlerin schon in ihrem 26. Lebensjahr, am 10. Oktober 1943, in Auschwitz-Birkenau gewaltsam ein Ende fand. So steht nun die Nachwelt vor einer Folge von vielen in spontaner, expressionistischer Linienführung mitgeteilten Erlebnissen, Momentaufnahmen, Gedanken und Gefühlen einer jungen, empfindsamen Frau, die in ihren beiden kreativen Jahren einmal hoffnungsvoll sagte: „Ach, meine Zukunft liegt ja noch vor mir." Im Februar 1943, sieben Monate vor ihrer Deportation nach Auschwitz, schrieb sie an den Musiker und Musikpädagogen Alfred Wolfsohn, der sich hinter dem Namen Amadeus Daberlohn verbarg: „Vielleicht, Liebster, ist es wirklich so, dass mit diesem Krieg auch das Theater, das die Menschheit sich gegenseitig vorgespielt hat, zu Ende geht." Doch auch diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Der Werkzyklus „Leben? oder Theater?", „der nicht nur durch seine Geschichte besticht, sondern auch durch die modernen Bildmittel und die leuchtende Farbigkeit der Gouachen," wie Sabine Breitwieser, Museumsdirektorin und Initiatorin der Ausstellung, sagte, wurde im Auftrag der Salzburger Festspiele vom französischen Komponisten Marc-André Dalbavie, ein Repräsentant der École de musique spectrale, als Oper vertont und am 28. Juli 2014 mit grossem Erfolg  uraufgeführt. Die Inszenierung stammte von Luc Bondy und die Rolle der Charlotte Salomon wurde von Johanna Wokalek gespielt und von Marianne Crébassa gesungen. Die Künstlerin selbst nannte 1942 ihren Zyklus „ein Singspiel", worauf auch Beatrice von Bormann hinwies, denn in diesem Werk  werden „tatsächlich  auf einmalige Weise Bild, Text und Musik miteinander verwoben" und „somit wird dieser grossartige Zyklus als Gesamtkunstwerk erfahrbar." Dalbavie beschrieb seine Tonsprache als „eine Befreiung, eine Expansion, man greift auf Harmonien der Vergangenheit, der Gegenwart und einer unbekannten Zukunft zu."

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Charlotte Salomon: Gouache aus dem Zyklus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942. Slg. Jüdisches Historisches Museum Amsterdam, Copyright Stiftung Charlotte Salomon. Mit Genehmigung des Rupertinum MdM, Salzburg.

Charlotte Salomon wurde am 16. April 1917 in Berlin als Tochter von Prof. Dr. Albert Salomon (1883-1976), Chirurg an der Charité, geboren und wuchs in einer bürgerlichen, liberalen jüdischen Familie im vornehmen Stadtteil von Berlin-Charlottenburg auf. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter, Franziska geb. Grunwald (1890-1926), heiratete ihr Vater 1930 die international bekannte Konzertsängerin Paula Lindberg (eigentlich Paula Levi, einzige Tochter des jüdischen Kantors und Religionslehrers Lazarus Levi). Schon 1933 musste Charlotte das Fürstin-Bismarck-Gymnasium, eine Schule für „die höheren Töchter Charlottenburgs", wegen der häufigen antisemitischen Schikanen und Pöbeleien verlassen, die nun immer aggressiver wurden. Doch dann hatte sie noch einmal „Glück", denn 1935/36 wurde sie - „ zunächst auf Probe" - an die Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst aufgenommen und im Februar 1936 sogar „regulär immatrikuliert". Grund dieses ungewöhnlichen Privilegs, das einem jüdischen Mädchen widerfuhr, war die Tatsache, dass ihr Vater als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg gewesen war und die Tochter daher von dem zeitweiligen „Frontkämpferprivileg" profitieren durfte. Doch schon im Jahr darauf, im Herbst 1937, wurde ihr bei einem Wettbewerb der Kunsthochschule wegen ihrer jüdischen Herkunft der erste Platz, den die Jury ihr zuerkannt hatte, verweigert. Danach verliess sie aus Protest die Hochschule. Zwei Jahre später emigrierte Charlotte Salomon nach Frankreich, nach Villefranche-sur-Mer, einer Gemeinde östlich von Nizza, wo bereits seit 1934 ihre Grosseltern im Gästehaus auf dem Landgut LErmitage der amerikanisch-deutschen Philanthropin Ottilie Moore wohnten. Von hier wurde sie 1940, zusammen mit ihrem Grossvater - ihre Grossmutter hatte sich bereits das Leben genommen -,  ins französische Internierungslager Camp de Gurs deportiert, jedoch bald, wegen des hohen Alters des Grossvaters, wieder freigelassen. Um diese Erlebnisse innerlich zu verarbeiten, begann sie - auf Anraten ihres Arztes - zu malen, und so entstand von 1940 bis 1942 ihr künstlerisches Lebenswerk. Als die deutschen Truppen 1943 auch Südfrankreich besetzt hatten, wurden Charlotte Salomon und Alexander Nagler, ein jüdisch-österreichischer Emigrant, den sie nach ihrer Flucht kennengelernt und im Juni geheiratet hatte, verraten und am 24. September 1943 wurden beide verhaftet. Drei Tage später kamen sie ins französische Sammellager Drancy bei Paris, wo am 2. Juli 1943 ein berüchtigter Ungarndeutscher, SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, das Kommando übernommen hatte. Von hier wurde Charlotte Salomon dann am 7. Oktober nach Auschwitz-Birkenau deportiert und gleich nach ihrer Ankunft am 10. Oktober 1943 ermordet. Sie war damals im fünften Monat schwanger. Ihr Mann starb bald danach an den Folgen der unmenschlichen Lagerhaft. Der französisch-amerikanische Schriftsteller, Philosoph und Kulturkritiker George Steiner, dessen Eltern übrigens aus Österreich stammten, sagte einmal über diese „Welt von Auschwitz", dass sie „jenseits der Sprache liegt, so wie [auch] jenseits des Vorstellbaren."

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Charlotte Salomon: Porträt, Gouache aus dem Zyklus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942. Slg. Jüdisches Historisches Museum Amsterdam, Copyright Stiftung Charlotte Salomon. Mit Genehmigung des Rupertinum MdM, Salzburg.

In der Abgeschiedenheit der Emigration und der alltäglichen Bedrohung durch eine gefahrvolle Gegenwart und ungewisse Zukunft schuf die junge Künstlerin in produktiver Eile ihr Lebenswerk - insgesamt über 2000 verschiedene Zeichnungen und Gouachen, darunter auch viele mit erklärenden Wörtern und Kurztexten, eingebaut als Teile der Komposition. Die Mappen mit dem Bilderzyklus „Leben? oder Theater?" widmete sie Ottilie Moore und übergab sie 1942 ihrem Arzt, Dr. Moridis, zur Aufbewahrung. Als Ottilie Moore 1946 auf ihr Landgut nach Villefranche zurückkehrte, überreichte ihr Dr. Moridis die geretteten Arbeiten. Im Jahr darauf reisten Charlottes Eltern, Paula (Stiefmutter) und Albert Salomon - sie hatten den Holocaust überlebt - nach Villefranche, und Ottilie Moore händigte ihnen die  Mappen aus. Seit 1971 befinden sich die Bilder von Charlotte Salomon im Joods Historisch Museum, einem Museum zur Geschichte des Judentums, das in der ehemaligen Grossen Synagoge von Amsterdam eingerichtet wurde. Im Jahr 2001 veröffentlichte die aus Südafrika stammende Kunsthistorikerin Astrid Schmetterling den Band „Charlotte Salomon, 1917-1943. Bilder eines Lebens".  2007 veranstaltete das Jüdische Museum in Berlin die Sonderausstellung „Charlotte Salomon. Leben? oder Theater?" mit einer Installation der belgischen Filmregisseurin Chantal Akerman.  2012 wurden ausgewählte Gouachen aus „Leben? oder Theater?" bei der DOCUMENTA (13) im Fridericianum in Kassel ausgestellt, wo man über 860.000 Besucher zählte. In ihrer Eröffnungsrede kommentierte Helga Rabl-Stadler, Präsidentin der Salzburger Festspiele, einen Satz, den Charlotte Salomon im Februar 1943 an Amadeus Daberlohn (Alfred Wolfsohn) geschrieben hatte: „Du hast meinen Ehrgeiz so angestachelt, dass ich mir vornahm, den anderen Menschen zum Trotz und dir zum Gewinn ein grosser Mensch und Künstler zu werden..." Seither sind Jahrzehnte vergangen. Eine grosse Künstlerin ist Charlotte Salomon geworden, doch um auch „ein grosser Mensch" zu werden, dazu reichte die Zeit nicht mehr. Das verhinderte ihr früher Tod.

1 Nähere Informationen: http://www.museumdermoderne.at/de/ausstellungen/aktuell/details/mdm/charlotte-salomon/