Christoph Tepperberg
Anton Pelinka: Faschismus? Zur Beliebigkeit eines politischen Begriffs.
Wien: Böhlau Verlag 2022.
273 Seiten, 12 schwarz/weiss-Abbildungen, Euro 36,00.-
ISBN: 978-3-205-21584-4
Der Autor hat seinem Buchtitel „Faschismus“ das Attribut „Beliebigkeit eines politischen Begriffs“ beigefügt. Was war der Anlass, über diesen unpräzisen, missverständlichen Begriff eine ausführliche Analyse vorzulegen? Seine Publikation, meint Pelinka, sei die Folge zweier Irritationen: zum einen die „intellektuelle Unschärfe“ im Umgang mit dem Begriff „Faschismus“, zum anderen der Streit um die Verwendung des Begriffs „Austrofaschismus“ für den autoritären österreichischen Ständestaat (S. 9). In den Kapiteln „Faschismus – Mehr als eine Leerformel?“ (S. 13-37) und „Merkmale des (eines) realen Faschismus“ (S. 200-231) werden grundlegende Fragen formuliert und problematisiert: Was bedeutet „Faschismus“? Lässt sich der Begriff überhaupt definieren? Benito Mussolini in Italien, Adolf Hitler in Deutschland, Engelbert Dollfuss in Österreich, Francisco Franco in Spanien, die Militärdiktatoren Japans, Ante Pavelić in Kroatien, Ion Antonescu in Rumänien, António Salazar in Portugal wurden als „Faschisten“ bezeichnet. Waren sie tatsächlich Proponenten ein und desselben Faschismus, oder dient der Begriff vielen als ein verallgemeinerndes Etikett? Wenn man andererseits die Unterdrückung universeller Grundrechte als Wesenskern des Faschismus definiert, was unterscheidet ihn dann von anderen repressiven Systemen wie den Diktaturen Stalins oder Maos? Und was bedeutet es, wenn im 21. Jahrhundert Donald Trump und Wladimir Putin unter Faschismusverdacht geraten? Herzstück der Publikation ist die Analyse von fünf Diktaturen, die in der Zwischenkriegszeit durch politische Verwerfungen entstanden waren: Italien 1922–1943 unter Mussolini definiert der Autor als den klassischen „Real Existierenden Faschismus“ (S. 38-74), das nationalsozialistische Deutschland unter Hitler 1933–1945 bezeichnet er als „Faschismus, aber mehr“ oder „Faschismus plus“(S. 75-103), den österreichischen katholischen Ständestaat 1933–1938 unter Dollfuss und Schuschnigg als „Faschismus, aber weniger“ oder „Faschismus minus“(S. 104-138), Japan 1937–1945 definiert er als „Militärdiktatur, aber kein Faschismus“(S. 139-172), Spanien 1939–1975 unter Franco schliesslich bringt er als Beispiel für „die begrenzte Überlebensfähigkeit des Faschismus“ (S. 173-199). Im Kapitel „Merkmale des (eines) realen Faschismus“ (S. 200-231) definiert Pelinka acht Kriterien zur Evaluierung von „Faschismen“, wobei der Nationalsozialismus alle Kriterien erfülle: 1. totalitärer Staat und Herrschaft; 2. Personalisierung einer autoritären Herrschaftsstruktur; 3. eine Massenbewegung, die sich als Anti-Systempartei an die Spitze des Systems setzt; 4. Militarisierung der Gesellschaft; 5. Repression nach innen; 6. Repression nach aussen; 7. Ausmass und Wirkung eines aggressiven, rassistische Züge aufweisenden Nationalismus; 8. Genozid, ethnische Vertreibung, Völkermord (S. 224-226). Den unter diesen Kriterien evaluierbaren Diktaturen stellt Pelinka den „Antifaschismus“ als „die Banalität des Guten“ mit all seinen Anachronismen gegenüber (S. 232-246). Bei Beantwortung der Frage „Was tun?“ tritt Pelinka für wehrhafte und selbstbewusste Demokratien ein, denn: „die Stärke der Demokratie ist die Schwäche des Faschismus“ und „eine Demokratie ist nie garantiert – und ein Faschismus kann immer drohen“ (S. 247-260). Das Buch enthält ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 261-267). Der Autor hat auf Fussnoten verzichtet, doch findet der Leser viele Quellenangaben als Kurzzitate innerhalb des Textes. Ein Personenregister ergänzt die Publikation (S. 269-273). Die zentralen Protagonisten (Mussolini, Hitler, Franco, Dollfuss und Schuschnigg) wurden bewusst nicht in das Personenregister aufgenommen. Der Wert des Buches liegt zweifellos in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Faschismusbegriff und in der umfangreichen Recherche zu Diktaturen und autoritären Regimen des 20. Jahrhunderts. Wie nicht anders zu erwarten, kommen auch Pelinkas Definitionen nicht ohne Anführungszeichen aus, Beispiele wie „Faschismus plus“oder „Faschismus minus“ veranschaulichen die Konfusion um diesen umstrittenen politischen Begriff.
Zum Autor
Anton Pelinka (geb. 1941 in Wien) ist einer der bekanntesten Politikwissenschafter Österreichs. Sein umfangreiches Oeuvre beschäftigt sich u.a. mit Demokratie und „Faschismus“, Sozialdemokratie und Gewerkschaften, dem österreichischen Parlamentarismus und Parteiensystem, der österreichischen Identität, Frauen in der Politik und dem Staat Israel.