1938: Kindertransporte aus Wien nach Holland, Frankreich, Norwegen, Schweden, vor allem aber nach England bis in die U.S.A.
2022: wieder Kinder und Waisenkinder, diesmal Flüchtende aus den Kriegsgebieten der Ukraine nach Deutschland und Österreich.
1938, insbesondere nach den Novemberpogromen, konnten 12.000 jüdische Kinder, darunter 3.200 aus Österreich, ihrer Verfolgung entkommen. Eltern mussten eine herzzerreissende Entscheidung treffen und ihre Kinder allein in einen Zug setzen, um ihnen das Leben zu retten.
Ankunft in Harwich.
Das Jüdische Museum Wien widmete dieser lange nicht beachteten Tragödie 2022 eine Ausstellung mit dem Titel Jugend ohne Heimat (als Reverenz an Ödön von Horvaths Theaterstück Jugend ohne Gott). Die Kinder mussten elternlos in einem fremdsprachigen Land (vor allem in Grossbritannien, aber auch den U.S.A.) bei Pflegegastfamilien oder in Internaten unterkommen, wobei die jüngeren oftmals sogar ihre Muttersprache verlernten. Erst ab den 1980er Jahren konnten sie ihre Geschichten freier erzählen und dokumentieren. Kuratorinnen der Ausstellung: Sabine Apostolo und Caitlin Gura-Redl. Hierzu liegt der Ausstellungskatalog vor.
Während des ersten von insgesamt dreiundvierzig Kindertransporten herrschte einerseits teils hoffnungsvolle und freudige Stimmung. Manche hatten die Vorstellung von einem Ferienlager, und bald sollten ja die Eltern und Geschwister folgen. Andererseits sahen viele bereits einen Abschied auf immer. So mancher erfuhr in den Nachkriegsjahren von der Ermordung seiner Eltern.
Eine der vielen berührenden Geschichten ist jene von der Trennung der Zwillinge Ilse und Helga Aichinger. Wie es der Zufall wollte, kam Dr. Josef Mengele zu Besuch zu deren Mutter, der Ärztin Berta Kremer. Mengele inspizierte und befragte die eineiigen elfjährigen Zwillinge. Als „Todesengel von Auschwitz“ führte er später grausame Experimente durch.
1939 konnte Tante Klara einen Platz in einem Kindertransport sichern. Welche der beiden Zwillingsschwestern sollte reisen? Da Ilse auf keinen Fall ohne Mutter gehen wollte, traf es ihre Schwester Helga. Anfänglich half Schreiben über die Trennung hinweg. Bald nach Kriegsbeginn gab es aber nur noch den Kontakt über die „Korrespondenzkarten“ des Roten Kreuzes. Innerhalb von drei Monaten konnte man fünfundzwanzig Wörter schreiben.
Die Aichinger-Zwillinge.
In Wien zurückgeblieben, schrieb Ilse fleissig Tagebuch und erinnerte sich an ihre Schwester:
„Du mein Geliebtes bist mit einer grossen Nummer und einer kleinen Umhängetasche am Westbahnhof weggefahren. Ich sehe noch Dein tapferes, erwartungsvolles Gesichterl vor dem verschlossenen Fenster…“
Helga kam auch nach dem Krieg nie mehr endgültig nach Österreich zurück. Ilse Aichinger schrieb 1948 in ihrem ersten und einzigen Roman Die grössere Hoffnung über verfolgte Kinder in der Nazizeit.
In der Ausstellung und dem Katalog beeindrucken und bedrücken zahlreiche Exponate, beispielsweise Setzkästen, eine Schachtel mit Lieblingsgegenständen, darunter Klaviernoten, oder das „Mensch ärgere Dich nicht“-Spiel. Aber auch die zahlreichen Interviews sind erschütternde Zeitzeugnisse.
2017 trafen Prinz Charles und Camilla im Jüdischen Museum Wien eine Gruppe österreichischer Jüdinnen und Juden, die seinerzeit durch einen der Kindertransporte nach England gekommen waren, und hörten deren bewegten Lebensgeschichten zu.
Heute und dauerhaft erinnert eine Bronzeskulptur am Wiener Westbahnhof an das Schicksal der Kinder ohne Heimat.
Die Freiheitsstatue in New York.
Erschöpftes Mädchen.
Zeichnung: Kindertransport.
Anmerkung der Redaktion
Schön wäre es, wenn sich dort, wo derzeit grosse Bauarbeiten rund um den Westbahnhof im Gange sind, auch ein Platz fände für die Ausstellung Für das Kind, die schon vor einigen Jahren auf Initiative von Milli Segal über die Kindertransport-Kinder entstanden ist und die sie von den Künstlerinnen Rosie Potter und Patricia Ayre übernommen hat. Diese Ausstellung ist weltweit einzigartig. Vgl. zu dieser Ausstellung auch DAVID Heft 107, Rosch Haschana 2016, https://davidkultur.at/artikel/fur-das-kind
Alle Abbildungen: Jüdisches Museum Wien, Presseabteilung.
B. Schäffner, mit freundlicher Genehmigung.