Ausgabe

Der Wochenabschnitt „Bereschit“ in moderner Interpretation

Theodor Much

Im Synagogengottesdienst am Schabbat wird die Thora (die hebräische Bibel) als fortlaufender Text vorgelesen. 

Inhalt

Entsprechend den Wochen des jüdischen Jahres wurde der Text schon im dritten Jahrhundert n.d.Z. in 54 Abschnitte eingeteilt. Der für die Lesung am Schabbat bestimmte Abschnitt der Thora wird als Parascha (Wochenabschnitt) bezeichnet. Jeder der Wochenabschnitte wird entweder nach dem ersten Wort oder nach dem ersten wichtigen Begriff in dem jeweiligen Wochenabschnitt benannt. Die einleitenden Worte des ersten Wochenabschnitts im Buch Genesis – 2022 am 22. Oktober gelesen – lauten: „Bereschit bara Elohim ...“ („zu Anfang schuf G‘tt ...“; Gen. 1.1–6.8), sie gehören zu den am häufigsten zitierten Sätzen der ThoraBereschit erzählt uns in wunderbarer literarischer Form von der Erschaffung des Universums und der Erde, auch der ersten Menschen, vom Garten Eden, in dem Adam und Eva lebten, von Riesen – Söhne aus der Verbindung von G‘ttessöhnen und einfachen Frauen –, die einst auf Erden lebten und auch vom Befehl G’ttes, die Natur zu bewahren und einen Ruhetag  – den siebenten Tag der Woche – einzuhalten.

 

Der Bericht wirft aber auch Fragen auf, wie etwa: wie alt ist die Welt? Steht die biblische Erschaffungslegende im kompletten Gegensatz zu den Erkenntnissen der Wissenschaft, besonders der Kosmologie? Wieso finden wir in diesem Wochenabschnitt zwei völlig gegensätzliche Berichte über die Erschaffung von Adam und Eva und zwei unterschiedliche G‘ttesnamen? Und wie es möglich ist, dass die heilige Schrift des streng monotheistischen Judentums von „Söhnen von G‘ttern“ spricht, die sich mit gewöhnlichen Frauen paaren und gemeinsam Nachkommen (Riesen) zeugen? Es darf aber auch gefragt werden, ob der biblische Garten Eden das Paradies ist, an das so viele Menschen weltweit glauben?

Genesis 1.1-27 erzählt von der Erschaffung aller Dinge aus absoluter Finsternis und einem „Tohu wawohu“, also aus völliger Unordnung. Gleich am Tag Eins leuchtet ein Licht und erhellt das gesamte Universum, danach – am Tag Zwei – bedeckt Wasser die Erde vollständig, das sich erst am Tag Drei zurückzieht und Erdmassen freigibt. So entsteht an diesem Tag einfaches Leben (Grünzeug). Am Tag Vier werden Gestirne am Firmament sichtbar und am folgenden – Tag Fünf – entsteht höheres Leben, zunächst in Wasser und Luft und erst am letzten Tag der Schöpfung – Tag Sechs – wird der Mensch geschaffen. Diese biblische Schöpfungsgeschichte ist in Teilen kompatibel mit den Thesen der modernen Kosmologie (Urknall aus dem Nichts), Wasser als Voraussetzung von Leben, das zunächst alles bedeckt und sich erst später zurückzieht, Sichtbarwerden von Gestirnen durch Änderung der Uratmosphäre, und die Entstehung von höheren Lebewesen, zunächst im Wasser, später auf den Landmassen. Bemerkenswert ist auch der biblische Satz von der Erschaffung des Menschen „im Abbild G‘ttes“. 

 

Im Wochenabschnitt Bereschit erfahren wir auch, in zwei unterschiedlichen, ja konträren Versionen von der Erschaffung des Menschen. Im Kapitel Eins – laut Bibelwissenschaft die jüngere Version beider Legenden –, werden Adam und Eva am sechsten Tag, gleichzeitig und im Abbild G‘ttes erschaffen. In Kapitel Zwei hingegen wird der Mensch vor allen anderen Lebewesen, selbst vor den Pflanzen, von G‘tt gezeugt. In dieser weit älteren Darstellung wird auch nicht der siebente Tag als Tag der Ruhe erwähnt. Beide Kapitel unterscheiden sich, indem sie zwei unterschiedliche G‘ttesnamen erwähnen. In Kapitel Eins wird G‘tt stets mit „Elohim“ (G‘tt des Gesetzes und der Strenge) bezeichnet, während Kapitel Zwei von „Adonai“ (G‘tt der Barmherzigkeit) spricht. Aus diesem Wochenabschnitt lernen wir auch, dass G‘tt einen Ruhetag verordnete, den Schabbat, einen Tag der Ruhe für Mensch und Tier, und dass er uns Menschen als Verwalter der Natur einsetzte. Dazu Raschi: „Aus menschlicher Dominanz darf kein Missbrauch werden, denn dann wäre der Mensch geringer als das Tier.“ Dass diese Schabbatruhe – das wichtigste Fest im Judentum – einen wichtigen Grundpfeiler des Judentums darstellt, ist jedem von uns hinlänglich bewusst. Im Abschnitt Gen 6.1. erfahren wir Seltsames. Dort wird von „g‘ttlichen Menschen“ oder „Söhnen von G‘ttern“ (Bneij ha-Elohim) gesprochen, die auf Erden lebten, sich schöne Frauen aus dem gemeinen Volke nahmen und mit ihnen Kinder zeugten, und diese Riesen (Nefilim) waren berühmte Helden.

 

Schlussfolgerungen

Da laut hebräischer Bibel alle Menschen einem einzigen Elternpaar entspringen – die Wissenschaft spricht vom Ursprung der Menschheit in Ostafrika – und sie alle im Abbild G‘ttes erschaffen wurden, ist Rassismus im Judentum verpönt. Die Entstehung des Universums mit einem Urknall vor rund 13,8 Milliarden Jahren und der Erde vor 4,6 Milliarden Jahren – und nicht, wie Fundamentalisten glauben, vor 5783 Jahren – steht nicht unbedingt im kompletten Widerspruch zum
Thora-Bericht („Es werde Licht“, als Äquivalent zum Urknall). Denn ein irdischer Tag muss nicht zwangsläufig einem kosmischen Tag entsprechen. Manche Fundamentalisten argumentieren, „dass die Frau dem Mann untergeordnet ist, da sie nach ihm und aus seiner Rippe erzeugt wurde.“ Doch aus Genesis,1 – der am häufigsten gelesenen Variante über die Erschaffung der Menschen – geht hervor, dass beide gleichzeitig geschaffen wurden und daher gleichwertig und gleichberechtigt sind – eine Vorstellung, die für die Mehrheit  der Juden Geltung hat oder haben sollte. Das Judentum kennt grundlegende Gesetze, wie etwa die Einhaltung der Schabbatruhe (eines der ältesten Sozialgesetze der Menschheit) und die Pflicht, die Natur zu schützen, so auch die Verbote während der Belagerung einer Stadt Obstbäume zu fällen (Dtn 20.19) oder der Verschwendung von Wasser (Tal Jewamot 11b). Es ist grundlegend falsch, den Garten Eden mit dem Paradies, dem Jenseits im religiösen Glauben gleichzusetzen. Denn in der biblischen Legende vom Garten Eden wird der wunderbare Garten Eden geographisch festgelegt (Assyrien, Region Tigris), ein Areal wo auch Gegensätze – Dualitäten – vorhanden sind. Die biblische Legende von „den Söhnen von G‘ttern, die mit irdischen Frauen Riesen zeugen“, ist mit den Grundsätzen des Monotheismus auf den ersten Blick kaum vereinbar und erinnert an ähnliche Mythen in anderen Kulturkreisen. Manche interpretieren den Begriff Nefilim auch als „gefallene Engel“ oder sprechen von Ehen zwischen Aristokraten und Töchtern aus dem gemeinen Volk. Wer die biblischen Erzählungen kritisch und nicht nach Art von Fundamentalisten liest, kann nur eine Schlussfolgerung aus diesen Überlieferungen ziehen: Die Thora – die hebräische Bibel – hat nicht einen einzigen historischen Überbringer – nämlich Moses –, sondern mehrere Autoren, die zu unterschiedlichen Zeiten und im Verständnis ihrer Zeit ihre Version der biblischen Geschichten niederschrieben.  All diese Schlussfolgerung ändern nichts an der Bedeutung, Grossartigkeit und Einzigartigkeit der auch literarisch hochstehenden biblischen Überlieferungen.

 

 

Über den Wochenabschnitt „Bereschit“ erreichte die Redaktion auch ein zweiter Beitrag:

 

Rabbiner Joel Berger

 

Zu Ágnes Hellers 

Interpretation der Genesis

 

Die Schilderung des „Anbeginns“ in der Tora hat viele Gelehrte zu mannigfaltigen Deutungen veranlasst. Einige sehen darin den „alten Streit zwischen Glauben und Wissen“. Das Buch der in Deutschland preisgekrönten ungarisch-jüdischen Philosophin Ágnes Heller, ehemals Musterschülerin des marxistischen Gelehrten Georg Lukács, belehrte mich darüber, dass es bei der Schöpfungsgeschichte nicht um „Glauben oder Wissen“ gehen muss.

Nach Heller handelt es sich bei „Genesis 1“, dem ersten Kapitel des 1. Buches Moses, um ein philosophisches und sehr kompaktes Werk. In der Schöpfungsgeschichte wird die Grundfrage der Philosophie aufgeworfen: Warum gibt es das Etwas eher als das Nichts? Oder, anders formuliert: Warum wird das Sein dem Nichtsein vorgezogen? Das sei Philosophie, aber keine klassisch-griechische, betont Heller. Eben daher bedürfe es nach den Kriterien der Wissenschaft keiner Beweise, dass das Buch Genesis Wahrheit beinhaltet.

 

“Genesis 1“ könne man nicht widerlegen, weil es eben keine Glaubenslehre, sondern Philosophie sei, behauptet Heller. Es sei wie mit den Ideen des grossen antiken Philosophen Plato, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden, trotz versuchter Widerlegungen, keinen Schaden nehmen konnten. Ebenfalls interessant ist, was Heller über Engel und Teufel ausführt: G’tt, weil Er der Schöpfer ist, schuf kein Mittlerwesen, also keine Engel oder Dämonen. Er schuf nichts, was in unserer Fantasie existiert. Jedoch schuf Er die Fantasie, argumentiert Heller.

 

Unsere Weisen und Gelehrten betrachteten natürlich die Tora und vornehmlich den Wochenabschnitt Bereschit als das Wort G’ttes und nicht aus der Warte der Philosophie, obwohl uns Dialoge zwischen Rabbinen und Philosophen in mehreren talmudischen Aggadot überliefert sind.