Ausgabe

Der Alte Jüdische Friedhof von Breslau

Thomas Varkonyi

Am 18. November 1856 um 14 Uhr hatte der 35-jährige Buchhalter Löbel Stern das zweifelhafte Privileg, als erster am damals neuen Friedhof „so zeitig als möglich“ bestattet zu werden.

Inhalt

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Grab Graetz, Alter Jüdischer Friedhof Breslau.

 

Vermutlich starb er an einer sehr ansteckenden Krankheit, denn die Leiche durfte nicht – wie es üblich gewesen wäre – gewaschen, angekleidet und in einem Holzsarg beerdigt werden. Der frühere Friedhof war voll, und der heute als Alter Jüdischer Friedhof bekannte neue Gräberhain wurde damit eingeweiht. Doch ist Stern wohl nicht die Hauptattraktion für die zahlreichen Besucher, die den Friedhof besichtigen kommen. Grund für den „Jewsearch“ sind vor allem die berühmten Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, darunter der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle, der Historiker Heinrich Graetz und der Grossgrundbesitzer und Mäzen Julius Schottländer

Die letzten Menschen wurden 1942 hier begraben. Ab 1943 war der Friedhof, mangels jüdischer Bevölkerung in Breslau, geschlossen – diese war zu diesem Zeitpunkt bereits in ihrer Gesamtheit deportiert worden. 1945 kämpfte die befreiende Rote Armee gegen die Deutsche Wehrmacht auch auf dem Friedhofsareal, wovon noch Einschusslöcher auf zahlreichen Gräbern zeugen. 

Heute ist der Alte Jüdische Friedhof  Teil des Breslauer Stadtmuseums; die kleine jüdische Gemeinde Breslaus nutzt hingegen den 1902 eröffneten Neuen Jüdischen Friedhof. Bekannt ist der Alte Jüdische Friedhof von Breslau wegen seiner schönen Lage, beeindruckenden Gräbern und seiner wehmütigen Stimmung, die darauf hinweist, welches Zentrum jüdischer Kultur und Wissenschaft sich einst hier befunden hatte. 

Der sozialistische Arbeiterführer Ferdinand Lassalle (1825–1864) starb bei einem Duell um Liebesdinge, das noch unnötiger und sinnloser war, als Duelle es im Allgemeinen ohnehin sind. Friedrich Engels schrieb über den Tod Lassalles an Karl Marx folgendes: 

Welcher Jubel wird unter den Fabrikanten und unter den Fortschrittsschweinehunden herrschen; Lassalle war doch der einzige Kerl in Deutschland selbst, vor dem sie Angst hatten. Aber was ist das für eine sonderbare Art, ums Leben zu kommen. Wie kann ein politischer Mann sich mit einem walachischen Abenteurer schiessen!“ 

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Grab Lassalle, Alter Jüdischer Friedhof Breslau.

 

Beide, Marx wie Engels, waren sich darüber einig, dass Lassalle Helene von Dönniges Aufforderung zu Intimitäten einfach folgen hätte sollen, anstatt den bürgerlichen Weg einzuschlagen und zuerst bei ihrem (abweisenden) Vater um ihre Hand anzuhalten. Jedenfalls wurde Lassalle am Friedhof seiner Geburtsstadt bestattet; sein Grab dient sowohl jüdischen als auch sozialistischen Pilgern als Ziel. 

Heinrich Graetz (1817–1891) war ein Historiker, der wegen seiner elfbändigen Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart Bekanntheit im gesamten deutschsprachigen Raum erlangte. Er war seit 1853 Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, einem der Schlüsselorte fü die Wissenschaft des Judenthums; ab 1867 war Graetz auch Honorarprofessor der Universität Breslau. 

Julius Schottländer war um 1900 der reichste Bürger Breslaus, Grossgrundbesitzer, Philantrop, Mäzen und Stifter. Nach seinem Tod 1911 hinterliess er seinen Nachfahren ein Vermögen von fünfzig Millionen Goldmark. Er wurde im Familienmausoleum, dem grössten Grab am Alten Jüdischen Friedhof von Breslau, bestattet. Dieses Grab ist im historisierenden ägyptischen Stil erbaut, vielleicht ein Hinweis auf den Auszug aus Ägypten (Exodus), möglicherweise auch eine Form der Selbstverortung im Orient. 

Last not least, sei noch auf die Gräber von Edith Steins Familie (Vater Siegfried 1844–1897 und Mutter Auguste 1849–1936) verwiesen. Edith Stein (1891–1942) konvertierte 1922 zum Katholizismus, was ihre Mutter Auguste als Apostasie zutiefst ablehnte. Edith trat 1933 in einen Orden ein; 1936 konvertierte auch ihre ältere Schwester Rosa Stein (1883–1942). Die Schwestern lebten gemeinsam im Konvent. Nach ihrer Flucht in die Niederlande wurden die Schwestern von den Nazis ergriffen und in Auschwitz ermordet. Edith Stein wird heute als katholische Heilige verehrt.

 

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Grab Cohn, Alter Jüdischer Friedhof Breslau.

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Gruft Schottländer, Alter Jüdischer Friedhof Breslau.

 

Alle Abbildungen: Th. Varkonyi, mit freundlicher Genehmigung.