Die psychiatrischen Diagnosen für durch den Holocaust entstandene Schäden an der Psyche existenziell Betroffener haben sich sehr geändert. Der Psychiater Sperling berichtete von seiner Gutachter-Tätigkeit für Konzentrationslager-Überlebende.
„Man wertet nur die Akten aus“, winkt der Vortragende ab, „man sieht die betroffenen Menschen nicht selber“. Sehr jung wirkt dieser deutsche Psychiater von der universitären Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Erlangen, der bereits rund 1.200 Gutachten über vom Holocaust betroffene Menschen erstellt hat. Es geht um psychische Langzeitschäden. Professor Sperling hat für Menschen aus der ganzen Welt Gutachten zur „Verfolgungsbedingten Minderung der Erwerbstätigkeit“ durch das deutsche Amt für Wiedergutmachung erstellt. Überlebende von Konzentrationslagern – wie er in einem Vortrag für das Frankfurter Fritz Bauer Institut erläuterte – „haben über Jahre zwischen Leben und Tod gelebt. Sie haben sich bemüht, sich am Leben zu halten.“ Der Psychiater spricht sehr viel von notwendigen „Reklassifizierungen“ der früheren Gutachten Betroffener, denn die Psychiatrie habe sich ja über die Jahrzehnte seit 1945 enorm weiterentwickelt, Diagnosen hiessen heute anders als früher. Trotzdem scheint die Psychiatrie anderen Forschungsrichtungen hier immer noch hinterher zu hinken; damals stand in den Gutachten noch häufig „Psychovegetativer Erschöpfungszustand“, heute heisst es in zumindest fünfzig Prozent der Fälle „Posttraumatische Belastungsstörung“, auftretend nach „existenziell lebensbedrohlicher Gewalt“. Wobei es mittlerweile mehr als 4.000 Publikationen zu posttraumatischer Belastungsstörung bei Holocaustopfern gebe.1
Kumulatives Dauertrauma
Im Alter käme es häufig zu einem „Rückfall“ in die Holocaust-Zeit. Sperling: „Es kann passieren, dass die Person dann nur noch in Holocaust-Nähe lebt.“ Der Professor meint, dies hänge damit zusammen, dass man im Alter psychische Dinge nicht mehr so gut verarbeiten könne. Somatische Beschwerden nähmen ebenfalls enorm zu.2 Es käme laut Sperling zu Schuldgefühlen, Erstarrung, einem „Dauertrauma“, einem „kumulativen Trauma“, zu dissoziativen Episoden und manchmal leider auch zur „Viktimisierung anderer Personen“. Im Alter hätte KZ-Überlebende daher, seiner Erfahrung nach, zu 91 Prozent eine chronische „Posttraumatische Belastungsstörung“, manche mit psychotischer Störung. Sogenannte „Angststörungen“ seien viermal so hoch; die Zahlen bei Altersdepressionen und Demenz hingegen unterschieden sich nicht sehr gegenüber jenen anderer Patientengruppen. Zusätzlich käme es aber zu einer Weitergabe oder Übertragung auf die Nachkommen, die mit 31 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ entwickelten (bei nicht direkt vom Holocaust Betroffenen: 19 Prozent): „Man kann sich dem nicht entziehen“, meint der Psychiater.
Geräusche hören
Zur allgemeinen Lage der Child Survivors ist zu beachten, dass überhaupt nur elf Prozent der Kinder die Konzentrationslager überlebt haben: 1,5 Millionen Kinder wurden dort ermordet. Die Kategorien der gutachterlichen Untersuchung hören sich schrecklich an: Konzentrationslager mit Verlust der Eltern oder ohne, Konzentrationslager mit Infektion. Aber auch: Konzentrationslager mit Flucht: „Das waren gar nicht so wenige!“, freut man sich als Zuhörerin mit dem Psychiater. Betroffene Child Survivors halten ein Leben lang im Beruf gut durch, strengen sich sehr an, „verfolgen die Strategie der Monofokussierung auf den Beruf, um andere Gedanken klein zu halten“. Aber dann, „wenn der Beruf wegbricht, kehrt der Holocaust zurück“. Ab einem Alter von sechzig Jahren entwickelten manche sogar eine Schizophrenie, hörten Stimmen und Geräusche – „zum Beispiel das Marschieren der Gestapo-Stiefel.“ Insgesamt lebten heute weltweit noch 160.000 Konzen- trationslager-Überlebende, um deren „Leidenserfahrung“ (Sperling) sich in Israel zum Beispiel Therapeutinnen in fünfzehn Zentren der Organisation AMCHA kümmern. Zur Frage eines Zuhörers nach den Selbstmordraten bei Überlebenden sowie zu den Selbstschädigungen von „Borderlinern“, meint der Psychiater, bei den von Depression Betroffenen sei die Suizidrate erhöht. Heutzutage ginge eine „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ oft in Richtung „Borderline“: „Das neue Klassifikationssystem ICD-11, als Nachfolge von ICD-10, stellt den Zusammenhang zwischen posttraumatischer Belastungsstörung und emotional instabiler Persönlichkeit her.“
Eine Zuhörerin fragt nach dem konstatierten sozialen Vermeidungsverhalten von Betroffenen, das oft über Generationen weitergegeben werde. Sperling: „Im Beruf funktioniert man, aber danach tauchen seltsame Krankheiten auf. Als Psychiater fragt man aber oft nicht, was haben Sie für eine Oma? Also sollte man sich die Familienbiografie genauer ansehen und ins Gespräch kommen.“ Professor Sperling aus Erlangen mit seinen über 1.200 Gutachten für Überlebende von Konzentrationslagern ist sehr dafür, zu fragen. Ein wichtiges Ergebnis.
Fritz Bauer Institut. K. Kellermann, mit freundlicher Genehmigung.
Anmerkungen
1 Anmerkung der Autorin: Entwickelt für Vietnam-Rückkehrer, übernahmen Feministinnen die „posttraumatische Belastungstörung“ für von sexualisierter Gewalt getroffene Opfer.
2 Anmerkung der Autorin: In der Extrem-Traumata-Forschung heisst es hingegen, man könne im Alter nicht mehr die Energie zur Verdrängung aufbringen, sodass lebenslang Verdrängtes daher stark an die Oberfläche zurückkäme.