Ausgabe

Judith Kerr, Méret Oppenheim, Ralph Giordano, Nadine Gordimer, Norman Mailer Zum 100. und 110. Geburtstag

Tina Walzer

Fünf künstlerische Persönlichkeiten einer Ära, geprägt durch frühe Erfahrungen von Verfolgung, Diskriminierung und Krieg, rund um die Welt.

Inhalt

Anna Judith Gertrud Helene Kerr, OBE, kam am 14. Juni 1923 in Berlin zur Welt. Als sie neun Jahre alt war, musste die Familie vor dem NS-Regime fliehen. Ihr Vater Alfred Kerr, der bekannte Theater- und Literaturkritiker, ein Regimegegner, war von Anbeginn an im Visier der Verfolger. Die Kerrs entgingen durch die Flucht in die Schweiz einer Verhaftung bereits wenige Stunden nach der Machtübernahme; Alfred Kerrs Schriften fielen den öffentlichen Bücherverbrennungen zum Opfer. Aus der Schweiz ging es weiter nach Paris, und von dort 1936 abermals weiter, nach England. Kerr verbrachte ihr gesamtes weiteres Leben dort. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie für das Rote Kreuz; danach konnte sie dank eines Stipendiums an der Londoner Central School of Arts and Crafts ein Kunststudium absolvieren. Aus Gutenachtgeschichten für ihre Kinder entwickelte sie Bilderbücher, die sie selbst illustrierte. Die siebzehnbändige Serie Mog the Forgetful Cat über eine Hauskatze und ihre Abenteuer, aber auch das Buch The Tiger Who Came to Tea, gehören zu den populärsten Werken des Genres Kinder- und Jugendliteratur im englischsprachigen Raum. Ihre traumatischen Fluchterfahrungen verarbeitete Kerr im Jugendroman When Hitler Stole Pink Rabbit, der in Grossbritannien zur Pflichtlektüre in Grundschulen zählt. Darin beschreibt sie aus der Sicht des Kindes, wie sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus NS-Deutschland entkommen konnte. Das Buch ist Teil der autobiografischen Romantrilogie Out of the Hitler Time. 2012 wurde Kerr von der Queen für ihre Verdienste um die Kinderliteratur sowie Holocaust Education geadelt; ein Jahr darauf wurde Grossbritanniens erste staatliche deutsch-englische Schule nach ihr Judith Kerr Primary School benannt. Am 22. Mai 2019 verstarb die Autorin in London.

 

Méret Oppenheim wurde in Berlin zehn Jahre vor Kerr, am 6. Oktober 1913, in eine jüdische Familie geboren; ihr Vater war Deutscher, ihre Mutter Schweizerin. Als der Vater, Arzt, im Ersten Weltkrieg zur deutschen Armee eingezogen wurde, übersiedelte die Mutter mit den Kindern zurück zu ihrer Familie, nach Basel. Im Alter von achtzehn Jahren ging Oppenheim auf Anraten ihrer Schweizer Grossmutter zum Kunststudium nach Paris. Dort lernte sie neben Hans Arp und Alberto Giacometti auch André Breton kennen, versammelte um sich den Kreis der Surréalisten (darunter Marcel Duchamp, Max Ernst und Man Ray) und wurde eine der wichtigsten weiblichen Exponentinnnen des Surréalismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Oppenheim bestand darauf, nicht nur männlichen Künstlern als Muse und Modell zu dienen (Pablo Picasso, René Magritte), sondern sehr wohl selbst als Künstlerin schöpferisch aktiv zu sein. Darauf bezog sich auch das bekannteste Werk ihrer surréalistischen Schaffensperiode, ein Teeservice (Objet, 1936), das sie in Fell hüllte, um damit gegen sexistische Vereinnahmungen durch Kollegen zu protestieren. Oppenheims Arbeiten orientierten sich an C. G. Jungs tiefenpsychologischen Theorien mit seinem Konzept von AnimusAnima. Das Objekt, von Breton aus eigenen Marketing-Überlegungen als Déjeuner en fourrure, englisch Breakfast in Fur benannt, ist (als erstes Sammlungsobjekt des Surréalismus in den Beständen des Museum of Modern Art in New York) bis heute als First Lady of MoMA bekannt. 

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Judith Kerr auf dem 16. Internationalen Literatur Festival Berlin, 2016. Foto: Christoph Rieger. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Judith_Kerr_on_September_15,_2016_at_the_International_Literature_Festival_Berlin.jpg

Ihre erste Einzelausstellung hatte Méret Oppenheim 1936 in Basel, wohin sie 1937 zurückkehrte. Hier fand sie ihren Vater vor, der Deutschland inzwischen aufgrund der NS-Verfolgungen hatte verlassen müssen und als Flüchtling diskreditiert wurde, auch als Arzt nicht mehr praktizieren durfte und arbeitslos war. In einer daraus resultierenden Schaffenskrise und um Geld für die finanzielle Unterstützung der Familie zu verdienen, wandte sie sich dem Restaurieren von Kunstwerken zu; auch schloss sie sich dem antifaschistischen Schweizer Künstlerkollektiv Gruppe 33 an. Nach dem Kriegsende und ihrer Heirat zog sie nach Bern, richtete sich dort ihr Künstleratelier ein und setzte sich voll neuer Kraft mit den jungen Avantgarde-Strömungen auseinander. Ab den 1950er Jahren stellte sie ihre Werke wieder öffentlich aus und erhielt international zunehmend grosse Anerkennung. Neben ihren Bildern und Skulpturen sind auch ihre Gedichte bekannt. 1975 bekam sie den Kunstpreis der Stadt Basel verliehen; seit 2001 ist dieser nach ihr, Prix Méret Oppenheim, benannt. Die Künstlerin verstarb dort am 15. November 1985.1 

 

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Lovis Corinth: Alfred Kerr, 1907. Quelle: http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Corinth,+Lovis%3A+Portr%C3%A4t+Alfred+Kerr

auf wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alfred_Kerr,_by_Lovis_Corinth,_1907.jpg

 

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Buchcover Mog und The Tiger Who Came to Tea

Ralph Giordano kam in Hamburg am 20. März 1923 als Sohn des sizilianischen Pianisten Alphons Giordano und seiner deutschjüdischen Ehefrau Lilly geb. Seligmann zur Welt. Die Familie wurde in der NS-Zeit zunehmend schikaniert und verfolgt, jahrelang zum Zwangs-Arbeitsdienst verpflichtet und konnte schliesslich nur mehr versteckt überleben; in einem überfluteten Keller, später überhaupt in einem Kriechkeller monatelang ausharrend, wurde die ganze Familie von Hamburger Helfern versorgt. Die Erfahrung der damals ständig präsenten Todesangst begleitete Giordanos weiteres Leben; er verarbeitete sie in seinem stark autobiografischen Roman Die Bertinis (1982), an dem er jahrzehntelang arbeitete. Der Schriftsteller wurde vor allem als Journalist und Regisseur für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) in Köln bekannt, wo er ab 1964 arbeitete. Deutschland eng verbunden, prägte er die Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft von der loyalen Haltung ihrer überlebenden Juden. Am 10. Dezember 2014 verstarb Giordano in Köln.

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Ralph Giordano im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr, Dresden, 2008. Autor: MMH. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ralphgiordano.jpg

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Nadine Gordimer auf der Buchmesse in Göteborg, 2010. Foto: Vogler. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nadine_Gordimer_2010.JPG

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Norman Mailer, 2006. Foto: Grlucas. Quelle: Norman Mailer Society Conference 2006, auf Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Norman_Mailer,_2006.jpg

Die Literatur-Nobelpreisträgerin 1991, Nadine Gordimer (20.11.1923–13.07.2014), lebte als Schriftstellerin und politische Aktivistin gegen das Apartheid-Regime in ihrer Heimat Südafrika. Ihr Vater Isidor war aus dem damals noch russischen Baltikum als Pogrom-Flüchtling dorthin gekommen, ihre Mutter Hannah Myers war britischer Herkunft. Gordimers Werke kreisen ums Exil, um Einsamkeit und den Kampf gegen Rassen-Gesetze. Dem African National Congress (ANC) trat sie schon sehr früh bei, als das noch illegal war. Mehrere ihrer Romane, wie Burger’s Daugther (1979) oder July’s People (1981) wurden von der südafrikanischen Zensur verboten. Nachdem Nelson Mandela 1990 aus dem Gefängnis entlassen wurde, war sie unter den Ersten, die er sehen wollte.

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„Doodle“ anlässlich von Méret Oppenheims 104. Geburtstag, 6.10.2017. Quelle: https://www.google.com/doodles/meret-oppenheims-104th-birthday

Nachem Malech Norman Kingsley Mailer (31.01.1923 Long Branch, New Jersey–10.11.2007 New York City), der Enkel eines Rabbiners, war Schriftsteller und Journalist, Drehbuchautor und Schauspieler, sowie 1955 Mitbegründer der Stadtzeitung The Village Voice (stilbildendes Wochenblatt für Manhattans hippen Stadtteil Greenwich Village, mit Feuilletons, Theater- und Filmempfehlungen, Lokalkritiken und Veranstaltungskalender). Mailer hatte bereits ein Ingenieursstudium abgeschlossen und sich der Literatur zugewandt, bevor er ab 1944 als Soldat der U.S. Army am Pazifikkrieg teilnehmen musste. Seine Erlebnisse verarbeitete er schreibend. Zweimal erhielt er den Pulitzer-Preis: 1969 für seine Reportage zur Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg (The Armies of the Night) und 1980 für seinen Tatsachenroman über einen Mörder, der hingerichtet wurde (The Executioner’s Song). Er verfasste auch Romanbiografien mit zunehmend spekulativem Charakter, über Marilyn Monroe (Marilyn: A Biography), einen vom Teufel besessenen Adolf Hitler (The Castle in the Forest), oder den Präsidentenmörder Lee Harvey Oswald (Oswald’s Tale). Mailer zählt neben Truman Capote oder Tom Wolfe zu den Exponenten des „New Journalism“, der in Sachtexten kreative Elemente einsetzt. Er war auch ein scharfsichtiger Analytiker der U.S.-amerikanischen Politik – kurz vor Beginn des Irak-Kriegs hielt er 2003 fest:

“Fascism is more of a natural state than democracy. To assume blithely that we can export democracy into any country we choose can serve paradoxically to encourage more fascism at home and abroad. Democracy is a state of grace that is attained only by those countries who have a host of individuals not only ready to enjoy freedom but to undergo the heavy labor of maintaining it.“2 

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Brunnen am Waisenhausplatz in Bern, Méret Oppenheim 1983. Foto: AnBuKu. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meret-Oppenheim-Brunnen_(Meret_Oppenheim_1983)_05.jpg?uselang=de

Anmerkungen

1 Die Retrospektive “Méret Oppenheim. Mon exposition” des Kunstmuseum Bern gab von 22.10.21 bis zum 13.2.22 Einblick in das über 50 Schaffensjahre umspannende Gesamtwerk. Das Digitorial zur Ausstellung https://meretoppenheim.kunstmuseumbern.ch erzählt von den besonderen Herausforderungen, die sich Oppenheim in ihrer Karriere stellten. #meretoppenheim #kunstmuseumbern

2 Zit. nach: “Only In America.” Archived March 3, 2016, at the Wayback Machine Commonwealth Club. February 20, 2003, www.commomwealthclub.org/archive/03/03-02mailer-speech.html. Übers.: „Der Faschismus ist eher ein naturgegebener Zustand als die Demokratie. Unbekümmert davon auszugehen, dass wir Demokratie in jedes beliebige andere Land exportieren können, bewirkt paradoxerweise eine Zunahme von Faschismus, im In- wie im Ausland. Die Demokratie ist ein Zustand der Gnade, der nur von solchen Ländern erreicht wird, in denen ausreichend viele Individuen mit einer Bereitschaft leben, Freiheit nicht nur zu geniessen, sondern sich auch jener Schwerarbeit zu unterziehen, die es kostet, sie aufrechtzuerhalten.“