Nur ein Jahr nach der grossen Friedl Dicker-Ausstellung mit Schwerpunkt Malerei und Kunstgewerbe im Linzer Lentos Museum kann man nun im
Wien Museum die architektonischen
Entwürfe und Realisationen des Ateliers Friedl Dicker – Franz Singer bestaunen.
Das ist nur mehr im Museum möglich. Keines der Werke hat überlebt, wie schon der Architekturhistoriker Friedrich Achleitner anlässlich der ersten Wiener Ausstellung (im Wiener Heiligenkreuzerhof, 1988) zum Werk der Bauhaus- Schüler feststellte:
„So gehört es zur tragischen Ironie dieses Werkes, dass alles,
was mit dem Ort verbunden war, zerstört wurde, ausgerottet
mit dem unbestechlichen Instinkt für jene Qualitäten, die das
eigene Denken in Frage stellen könnten.“
Achleitner selbst sah noch den Torso des Hauptwerkes der Architekten:
„Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren noch die Ruine des ‚Gästehauses Heriot‘ in der Rustenschacher Allee gesehen hat, glaubte nicht einer Vergangenheit, sondern der Zukunft begegnet zu sein.“
Das Werk der Architekten wurde in den 1920er Jahren durchaus als radikal empfunden, nichts war da von dem expressiven Pathos des Roten Wien zu finden, auch nicht die Biedermeier-Rezeption des privaten Wohnbaus. Durch Klappen, Stapeln und Herausdrehen der Möbel nahmen die jungen Architekten dem Raum sein ruhendes Moment, machten ihn mobil.
Damit experimentierten sie in Einraum-Wohnungen (Wohnung Hedy Schwarz, Hochhaus Herrengasse) genauso wie in Villenbauten (Villa Neumann, Reichenberg/Böhmen) oder beim Projekt für Arbeiterwohnsiedlungen in Palästina, oder bei der Einrichtung des Montessori-Kindergartens im Goethe-Hof.
Alleine in Wien arbeiteten sie an mehr als hundert Projekten respektive Realisierungen; weitere gibt es unter anderem in Berlin, Brünn und Prag. Im Katalog gibt es nun erstmals ein umfangreiches Werkverzeichnis, so, wie es sich aus der Sammlung des Bauhaus-Archivs und jener von Georg Schrom rekonstruieren lässt.
Sowohl Friedl Dicker als auch Franz Singer verliessen Wien nach dem Bürgerkrieg; Friedls Schicksal ist bekannt. Sie zog nach Prag, später ins ostböhmische Hronov. Von dort wurde sie deportiert, kam nach Terezín, wo sie als Zeichenlehrerin im Ghetto arbeitete. Im Oktober 1944, mit einem der letzten Transporte, weiter nach Auschwitz, wo sie umgebracht wurde.
Franz Singer emigrierte 1934 nach London, wo er weiterhin als Architekt arbeitete. Er starb 1954 in Berlin, als er gerade mit dem Wohnhaus-Entwurf für seine Wiener Studienkollegin Margit Tery-Adler-Buschmann beschäftigt war.
Das Büro arbeitete vornehmlich für die intellektuelle jüdische Mittelschicht. Soweit bekannt, kehrte nur eine einzige Auftraggeberin, nämlich die Auschwitz-Überlebende Ella Lingens-Reiner nach Wien zurück. In ihre von Dicker/Singer gestaltete Wohnung in der Piaristengasse 54 konnte sie nach ihrer Rückkehr aus dem KZ nicht mehr einziehen. Die Wohnung soll aber bis 1990 im ursprünglichen Zustand erhalten gewesen sein.
Georg Schrom zeigt dem weltbekannten Architekten Norman Foster die Ausstellung, 2022. Foto: G. Schrom, mit freundlicher Genehmigung.
Katalog:
Atelier Bauhaus Wien / Friedl Dicker und Franz Singer. Wien 2022. Müry Salzmann Verlag, 448 Seiten, Euro 45,00.-, ISBN 978-3-99014-233-2 955
Eine weitere Ausstellung zum Werk Friedl Dickers wird am 29. März 2023 in Zürich eröffnet:
Künstlerin der Moderne. Friedl Dicker-Brandeis. Graphische Sammlung ETH Zürich, Rämistrasse 101, bis 28. Juni 2023, in Kooperation mit Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien: https://kunstsammlungundarchiv.at/sammlung-kunst-architektur-design/projekte/kuenstlerin-der-moderne-friedl-dicker-brandeis/