Ausgabe

Vergebene Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr

Content

David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher

Juden 1933-1938

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016

440 Seiten, Hardcover, 1 Karte, Euro 70.00

ISBN 978-3-525-37039-1

Auch als eBook erhältlich, EAN: 9783647370392, Euro 59.99

  

Jeder, der sich mit der Schoah beschäftigt, dürfte sich wohl schon gefragt haben: Warum nur sind sie nicht rechtzeitig ausgewandert, die Juden aus Deutschland? Auf genau diese Frage versucht David Jünger1 mit dem vorliegenden Werk eine Antwort zu geben. Er beginnt damit, seine Untersuchungen von denen der Vorgänger klar abzugrenzen: In praktisch allen Untersuchungen werden die Juden in Deutschland und ihre Ausgrenzung, Beraubung sowie Ermordung durch die Brille der Schoah, also im Nachhinein, betrachtet. Das verfälscht Jüngers Ansicht nach die Perspektive. Aus diesem Grund geht er in mühevoller Quellensuche den Stimmungen nach, die unter den Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1938 herrschen. Der Autor teilt die politischen Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Juden in Deutschland in mehrere Phasen ein. In der ersten Phase der Judenverfolgung in Deutschland kommt es zur Entrechtung der Juden. Jetzt ist eine ordentliche Emigration noch möglich. Allerdings wird sie grösstenteils von politisch Verfolgten, Juden wie Nichtjuden, wahrgenommen. Es sind auch hauptsächlich jüdische Intellektuelle, die die Gelegenheit wahrnehmen. Nach dem 30. Januar 1933 geht Joseph Roth nach Paris. Lion Feuchtwanger bleibt gleich in Paris, wo er sich gerade aufhält, und Albert Einstein bleibt ebenfalls dort, wo er ist: in den USA. 1933 verlassen ungefähr 37.000 Juden Deutschland, zwischen 1934 und 1938 beläuft sich die Zahl der Auswanderer auf 20.000 bis 25.000 jährlich. Es zieht sie vor allem nach Europa: Prag, Genf, Paris und London heissen ihre bevorzugten Ziele. Fast alle glauben an ihre baldige Heimkehr nach Deutschland. Nur wer nicht daran glaubt, den zieht es in die USA. Ansonsten wird in jüdischen Kreisen beschwichtigt: Ruhe! Abwarten!

In der zweiten Phase, bis 1935, entwickelt sich eine neue jüdische Solidarität unter den Juden, jüdische Organisationen bleiben erhalten, es geht die Illusion um: Jüdisches Leben geht weiter, wenn auch getrennt von deutschem Leben. Bis zum Sommer 1934 hofft man noch immer auf ein Scheitern des Nationalsozialismus. Die liberalen Juden, welche die Mehrheit in Deutschland darstellen, denken nicht einmal an Emigration. Zwar macht man ausgiebig Urlaub im Ausland, auch in Palästina, aber man kommt zurück nach Deutschland. Den meisten orthodoxen Juden fallen die Einschränkungen für Juden kaum auf. Lediglich das Schächtverbot am 21. April 1933 schreckt sie aus ihrer Ruhe auf. Auch bei den Zionisten in Deutschland heisst es: Wir bleiben! In einer dritten Phase werden die Daumenschrauben fester angedreht: Der Boykott jüdischer Geschäftstätigkeit nimmt stetig zu; Vorträge und Versammlungen werden überwacht, die Freiheit der jüdischen Presse zusehends eingeschränkt. Mitte Juli 1935 gibt es Gewalt gegen Juden auf dem Berliner Kurfürstendamm und anderswo. Damit wollen die Nationalsozialisten die Juden noch immer zur Auswanderung bewegen. Die Reichsversammlung der Juden empfiehlt: grösste Zurückhaltung, schön zu Hause bleiben, bloss nicht provozieren, Rückzug aus dem aktiven gesellschaftlichen Leben. Die berüchtigten Nürnberger Gesetze werden in jüdischen Kreisen oft nur als „Hausangestelltengesetz" wahrgenommen. Schlimmer wirkt es, als ab dem 31. Dezember 1935 genau definiert wird, wer Jude ist und bis zu welchem Grad jemand als Jude gilt. Im Jahr 1936 herrscht bis zur Olympiade Ruhe; es werden keine neuen Gesetze gegen Juden verabschiedet. Nach den Olympischen Spielen bis Ende 1936 wachsen Vereinsamung und Verarmung der Juden in Deutschland. Noch wollen die Nationalsozialisten alle Juden aus Deutschland weg haben. Sie reisen denn auch vermehrt nach Palästina; jeden Monat zwischen 400 und 500, und sie fahren auch gerne in die USA. Aber dableiben? Nein! Man kehrt getreulich zurück nach Deutschland. Am 10. April 1937 wird die Loge Bnei-Brith aufgelöst. Das bedeutet das Ende der innerjüdischen Autonomie. Inzwischen ist Göring zum wichtigsten Mann im Reich aufgestiegen und es weht ein merklich schärferer Wind für die Juden. Natürlich wird die Möglichkeit einer Auswanderung diskutiert. Es wandern jedes Jahr auch etwas über 20.000 Juden aus Deutschland aus, also nicht mehr als in den vorangegangenen Jahren. Man emigriert in der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr. Erst mit dem „Anschluss" Österreichs und dem Novemberpogrom 1938 wird aus der Emigration eine Flucht. Noch immer sind die Gründe für den zögerlichen Aufbruch aus Deutschland oder das Bleiben bis zum bitteren Ende heftig umstritten. Sie werden wohl nie geklärt werden. Mit diesem Buch hat David Jünger einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung geleistet - ihm sei Dank!

 

1  David Jünger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. (Anmerkung der Lektorin)