Ausgabe

Ungarn im Herbst 1956

Monika KACZEK

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Diesen Herbst jährt sich zum sechzigsten Mal das Gedenken an den Ungarischen Volksaufstand. In Erinnerung an diese Ereignisse erschien im Tyrolia Verlag ein beeindruckender Bild- und Textband mit Fotos von Erich Lessing und Essays des Historikers Michael Gehler. 1Das Buch beinhaltet die besten Fotografien Erich Lessings und Michael Gehler liefert in einem Essay wertvolle Hintergrundinformationen zu den Bildern.

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Erschöpfte Flüchtlinge aus Ungarn im Lager Andau. Copyright: Erich Lessing. Mit freundlicher Genehmigung: Tyrolia Verlag

Im Herbst des Jahres 1956 reiste der junge Fotograf Erich Lessing 2 von Wien aus nach Ungarn, um die revolutionären Geschehnisse des Nachbarlandes zu dokumentieren. In einem Interview mit dem Standard aus dem Jahre 2006 erinnert sich Erich Lessing an die damalige Stimmung: „Oberflächlich betrachtet war das tägliche Leben in Budapest das einer nicht sehr reichen, aber auch nicht verarmten Stadt. In den Kaffeehäusern an der Donau gab es Five o"Clock Tea, und auch das Landleben hat eigentlich ganz gut ausgeschaut. Das, was an Unfreiheit und fehlender politischer Partizipation vorhanden war, das sah man ja nicht auf Bildern, sondern konnte allenfalls in Texten beschrieben werden. Und unter dieser Oberfläche, da brodelte es." 3

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Demontage einer Stalin-Statue am Felvonulási-Platz in Budapest. Copyright: Erich Lessing. Mit freundlicher Genehmigung: Tyrolia Verlag

Die ungarische Revolte gegen die Sowjetherrschaft begann am 23. Oktober 1956. Noch am Abend desselben Tages wurde die Stalin-Statue im Stadtpark gestürzt - ein wichtiges Symbol der Aufständischen. Innerhalb von 120 Stunden brach das verhasste Regime zusammen und der reformkommunistische Ministerpräsident Imre Nagy (1896-1958) verkündete die Einführung der parlamentarischen Demokratie sowie die Neutralität Ungarns mit gleichzeitigem Austritt aus dem Warschauer Pakt. Erich Lessing über das Durcheinander des Aufstandes: „Man darf ja nicht vergessen, dass es da die verschiedensten Gruppierungen gab. Das war ja nicht eine Revolution. Da gab es eine sehr rechte Gruppe um Gergely Pongrátz. In der Kilián-Kaserne gab es die Stalinisten unter Oberst Pál Maléter. Dann die Reformkommunisten um Imre Nagy. Etwas ausserhalb der Innenstadt hatten sich Konservative versammelt, die an der Gründung einer katholischen Partei arbeiteten. Selbst das Militär war ja keine einheitliche Gruppe. Bis heute wird etwa darüber gerätselt, wer damals die Waffenmagazine geöffnet hat. Kurz: Es war ein Chaos. Das war ja auch mit ein Grund dafür, dass die Revolution so schnell zusammenbrach." 4 Doch am 4. November schlug die Sowjetarmee den Aufstand mit Waffengewalt brutal nieder. Dabei kamen 2.600 junge Ungarinnen und Ungarn ums Leben und fast 200.000 flohen ins benachbarte Österreich.

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Eine Polizistin regelt den Verkehr an der Kreuzung Üllöi-Alleee und József,-Ring. Copyright: Erich Lessing. Mit freundlicher Genehmigung: Tyrolia Verlag

Mit seiner Kamera fing Erich Lessing alle Phasen dieser gescheiterten Revolte von den ersten Demonstrationen über den Umsturz bis zur Niederschlagung ein. Dabei war er aber nie ein unbeteiligter Journalist sondern blieb immer ein Dokumentarist, der in Verbindung mit den porträtierten Personen stand. „Ein Satz beschreibt am besten, was Philosophie, Menschlichkeit und Credo hinter dem Chronisten der Gegenwart, dem Vermesser der Zeit, ausmacht: ‘Was mich an allen Fotos, die ich gemacht habe, aber am meisten interessiert, ist das, was nach dem Moment der Aufnahme passiert ist, was aus den Menschen wurde ... " 5

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Massenkundgebung am 23. Oktober 1956. Copyright: Erich Lessing. Mit freundlicher Genehmigung: Tyrolia Verlag

1  Erich Lessing und Michael Gehler: Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa. Erzählt in Bildern von Erich Lessing und Texten von Michael Gehler

Innsbruck: Verlagsanstalt Tyrolia 2015. 272 Seiten, Hardcover, Euro 34.95

ISBN: 978-3-7022-3491-1

2  Erich Lessing, der am 13. Juli 1923 als Sohn einer jüdischen Familie in Wien geboren wurde, konnte 1939 als Sechzehnjähriger ins damalige Palästina auswandern. Am 31. Dezember 1939 gelangte er über Triest mit dem letzten Schiff nach Haifa, wo er Radiotechnik studierte. Seine Mutter, eine Konzertpianistin, und die Grossmutter, die in Wien blieben, wurden in Konzentrationslagern ermordet. 1947 folgte die - eher unfreiwillige - Rückkehr nach Wien, denn Lessings ursprüngliches Ziel war Paris. In Österreich lernte er seine spätere Frau Traudl kennen, die bei der amerikanischen  Agentur Associated Press tätig war. Vier Jahre später begann Lessings Arbeit für die renommierte Fotoagentur Magnum. Nebenbei arbeitete er als freier Fotograf für Zeitschriften wie Life oder Paris Match.

3  http://derstandard.at/2615233/STANDARD-Interview-Die-Macht-der-Symbole

4  Ebd.

5  derstandard.at/2000014806293/Erich-Lessing-Vom-Festhalten-der-Zeit