Stefan Zweig: »Erst wenn die Nacht fällt«. Politische Essays und Reden 1932-1942
Herausgegeben von Klaus Gräbner und Erich Schirhuber
Krems an der Donau: Edition Roesner 2016
127 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen, Euro 22.90 Euro
ISBN 978-3-903059-10-8
Es scheint, als gebe es für Stefan Zweig derzeit erneut eine Renaissance; der meistgelesene deutschsprachige Autor des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erlebte bereits mehrere Wiederentdeckungen, wobei im Gegensatz zu früher, als vor allem Zweigs Werke - etwa über Joseph Fouché, Erasmus von Rotterdam oder über Castellio gegen Calvin - behandelt wurden, nun Zweig als politischer Mensch im Mittelpunkt zu stehen scheint.
Der berührende, erschütternde Film Vor der Morgenröte (2016) von Maria Schrader über Stefan Zweigs letzte Jahre bis zu seinem Exil in Brasilien und dem Selbstmord am 23. Februar 1942 in Petrópolis scheint diesen Eindruck zu vertiefen, zu stark ist die Wirkung, die Botschaft, die Zweigs zutiefst humanistisches Erbe hinterlassen hat. Er wurde spätestens durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten, nicht zuletzt durch seine Freundschaft und den intensiven Austausch mit dem französischen Schriftsteller Romain Rolland oder mit dem belgischen Dichter Émile Verhaeren.
Daran, dass in einer unwirtlich anmutenden Welt jemand die Stimme erheben müsse, jene des Geistes und des Intellekts, glaubte Stefan Zweig bis zuletzt. Er betrachtete dies vor allem als Aufgabe des jüdischen Volkes, das sich nicht zu sehr auf die physische Gestaltung des Körpers durch Sport konzentrieren solle, wie ein kurzer Text in Erst wenn die Nacht fällt suggeriert; denn es gelte, das jahrtausendealte Erbe des jüdischen Geistes, der sich in allen Wissenschaften - insbesondere der Juristerei, der Medizin und in den schönen Künsten - hervorgetan habe, zu bewahren und sinnvoll einzusetzen angesichts des nationalsozialistischen Terrors.
In den versammelten Essays und Reden fällt auf, dass sich Zweig als zutiefst in seiner jüdischen Herkunft verwurzelten Menschen sieht, wenn er etwa in einem Vortrag die Schaffung eines Fonds anmahnt, der die Bürger, die ob ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen müssen, aufnehmen und versorgen könne; Zweig rechnet auch vor, wie viel Geld es bräuchte. Ganz praktisch und ganz bei sich ist Zweig da, denn er weiss wohl, dass ihm selbst in seinem angenehmen Exil in Brasilien keine Gefahren, keine Not drohen. Umso mehr bedrängen ihn die Briefe von Bekannten aus Europa, die Zweig bitten, ihnen Visa für eine Flucht aus Nazideutschland zu verschaffen. Zweig tut, was er kann, er hält Vorträge, setzt sich für Kollegen ein, schüttelt Hände.
Das grosse Verdienst des schmalen, in der Edition Roesner erschienenen Bändchens ist, eine bisher weniger bekannte Dimension in Stefan Zweigs Schaffen zugänglich zu machen; es sind bisher unveröffentlichte oder nicht mehr zugängliche Reden und Vorträge, auch Entwürfe zu Vorträgen, die durch die Arbeit der Herausgeber wieder lesbar sind. Zweig selbst lässt sich in diesem Buch als zweifelnden, fast verzweifelnden Helden einer griechischen Tragödie verstehen, der partout keinen Ausgang findet und überzeugt ist, dass die Zukunft den Untergang bedeutet, dass er in einer barbarischen Zeit lebe. Die Vorträge stammen aus den Dreissigerjahren bis hin zu Stefan Zweigs Tod im Februar 1942, bewunderungswürdig sind Stil und intellektuelle Prägnanz des im Exil schon fast Verstummten, Verzweifelten. In den Reden lernen wir einen Stefan Zweig kennen, der seine jüdische Identität entdeckt und Pläne und Vorhaben ersinnt, wie die praktischen Probleme, die aus der Judenverfolgung erstehen, zu lösen sind, etwa mit der Schaffung einer Art Volksbücherei nach Art der Penguin Library, die es Interessierten in der ganzen Welt ermöglichen soll, deutsche Literatur „frei und unabhängig" (S. 60) kennenzulernen - auch um die Lücke, welche die Nationalsozialisten durch die Vertreibung der besten Schriftsteller in die deutschsprachige Literatur geschlagen haben, zu schliessen. „Diese Reihe soll gleichmässig ausgestattet sein und nach aussen als eine Einheit wirken. Sie soll enthalten Romane, Essays, Anthologien, philosophische Werke, aber ausschliesslich nur das Beste vom Besten." (S. 61) Eine wunderbare Idee, die ganz nah an Stefan Zweigs Streben nach einer „geistige[n] Einheit Europas", wie ein Typoskript betitelt ist, angelehnt ist.
Stefan Zweig bezieht sich in seinen Reden und Aufsätzen immer wieder auf ein humanistisches Erbe, das es in Zeiten der Barbarei zu bewahren gelte, und spricht sich und den vielen anderen Verfolgten Mut zu; er spannt den Bogen von den Religionskriegen im 17. Jahrhundert bis zum Schrecken des Ersten Weltkriegs und betont, dass es immer wenige waren, die die Idee der Humanität hochgehalten haben. „Sie waren eine kleine Gruppe, meist arme Gelehrte ohne Einfluss und Macht, aber sie haben in einem kritischen Augenblicke die Einheit der Welt gerettet, indem sie der Idee der Menschheit treu blieben. Dass der eine Franzose war, der andere ein Holländer, der dritte ein Spanier, konnte sie nicht irre machen, auch wenn ihre Nationen im Kriege gegeneinander lagen, denn sie fühlten sich als ‚Weltbürger‘ und ihr Vaterland war die ganze Menschheit [...]" (S. 79) Immer wieder beruft sich Stefan Zweig auf ein vereintes Europa und denkt dabei an Woodrow Wilson und seinen Völkerbund - die Hoffnung auf ein friedliches Europa, die gerade heute, da sich nach langer Friedenszeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Europäische Union wieder aufzulösen scheint, hochaktuell ist.
Im Blick hat Zweig auch den sogenannten Fortschritt, die Technik-Hörigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auch im 21. Jahrhundert in ähnlicher Weise vorherrscht. Zweig erinnert sich an das Wunder des ersten Telefonapparats, den er als Sechsjähriger bestaunt, nicht ohne die fatalen Folgen zu erinnern, die schliesslich zu den zwei grossen Kriegen des 20. Jahrhunderts führten. „Sie mögen sich unsere Enttäuschung denken, unsere Verzweiflung, als der Krieg dann plötzlich begann und überdies der fürchterlichste Krieg der Geschichte war. Die Technik hatte uns verraten und die Wissenschaften. Die Aeroplane, die wir liebten als die Boten von Volk zu Volk, streuten Bomben und Gift auf Wehrlose, die Gelehrten erzeugten Mittel zum Mord, die Philosophen rühmten den Krieg und von Land zu Land verhöhnten sich dieselben Menschen, die einen Monat vordem sich Freunde genannt." (S. 85)