Wenn der Herbst naht und wir jüdische Menschen über uns, unsere Taten und Verfehlungen vor unserem G-tt Rechenschaft ablegen, muss ich unweigerlich daran denken, wie oft und wie grausam die kommunistische Diktatur unsere Brüder und Schwestern im sowjetischen Machtbereich zu „Selbstkritik" und „Reue" zwang. Wie oft waren sie genötigt, niemals begangene Fehler zuzugeben, oder haben versucht, sich verzweifelt zu rechtfertigen. Die Machthaber kannten ihnen gegenüber oft keine Gnade und kein Erbarmen. Sie haben mit aller Gewalt versucht, die Erinnerungen, die Verbindungen an geheiligte Traditionen unseres Volkes für immer auszumerzen. Es sollte ihnen nicht gelingen. Daher stehen wir heute wieder gemeinsam vor einem neuen jüdischen Jahr.
Die Neujahrstage sind nach der Vorstellung der jüdischen Tradition Gerichtstage G-ttes, an denen Er das Buch der Erinnerungen aufschlägt. In diesem Buch sind all unsere Handlungen aufbewahrt, auch diejenigen, für die wir nachträglich Reue empfinden. Gemäss unseren Taten wird das Urteil für das kommende Jahr gefällt, jedoch noch nicht besiegelt, denn Busse, Andacht und soziales Verhalten können ein drohendes Verhängnis von uns abwenden. Erst am Versöhnungstag Jom Kippur wird unserem Glauben nach das Urteil bekräftigt. So ragen in der Flut des Lebens diese Festtage, die uns wegen unserer Verfehlungen Sühne bringen könnten, hoch hinaus. Was Wunder, wenn unser Gemüt an ihnen in Bewegung gerät.
Sorglos und lebensfroh wollten wir unser Dasein im Laufe des Jahres gestalten während wir uns selbst des Öfteren als alleinigen Mittelpunkt empfanden. Aber im Rückblick wird uns gewahr, dass wir häufig schwere Fehler, die man als Untat bezeichnen könnte, gegen die Ehre und Würde unserer Nächsten begangen haben. All dies lässt uns unsere Endlichkeit bewusst werden. Diese Erkenntnisse werden gerade in den Tagen von Rosch Haschana gefordert.
Der gläubige Jude empfindet in seinem Herzen daher wie der Psalmdichter mit seinem Ruf: „Al Tiskor Lanu Awonot Rischonim; Maher Jekadmenu Rachamecha ki Dalonu Meod." „Gedenke (O Herr) nicht unserer früheren Untaten; mit Deinem Erbarmen komm uns eilends entgegen, denn elend sind wir gar sehr." (Psalm 79:8)
Zu Rosch Haschana, wo wir dem Schicksal ins Auge sehen, scheint nur die aufrechte Versöhnung mit denen, die wir verletzt hatten, Hoffnung auf einen Neubeginn zu spenden. Angesichts der Lage um uns herum, in der desolate Vorurteile gegen unser Volk wieder aufleben, müsste uns Unmut und Verzweiflung erfassen, wenn das Vertrauen nicht wäre und seine heilige Quelle: der Schöpfer, der Hüter Israels. Er möge uns an diesen erhabenen Festtagen verheissungsvoll trösten - mit den Worten Seines Propheten: „Merachok Haschem Nir a Li....." „Von Ferne erschien mir der Herr: da Ich dich (Israel) mit ewiger Innigkeit liebe, zog Ich dich darum in Gnade zu mir." (Jer.31:2)
Die Liturgie der Festtage wird mit zahlreichen, wegweisenden Bibelstellen bereichert. Die „Wegweiser" sollen den Glauben der Väter Abraham, Isaak und Jakob und der Propheten in den Betenden stärken. Eine jener charakteristischen Bibelstellen ist der Vers 20. aus dem 31.Kapitel des Buches des Propheten Jeremia. Dort lesen wir: „Ist mir Efraim ein teurer Sohn oder ein Kind der Wonne? Denn sooft ich auch wider ihn geredet habe, gedenke ich seiner doch immer wieder. Darum schreit mein Innerstes nach ihm; Ich will mich gewisslich seiner erbarmen, spricht der Herr."
Die Dichter der Liturgie wählten diesen Vers aus dem Buch des Propheten Jeremia aus gutem Grunde: Der Vers beinhaltet die ewig menschliche, jüdische Frage angesichts der Hohen Feiertage: Können wir, dürfen wir Menschen, die uns von G-tt weit entfernt haben, Sein wohlwollendes Gedenken an die Väter, wie auch an das Land der Verheissung und des Bundes in Erinnerung bringen? Die Antwort gibt die prophetische Botschaft: Efraim - einer der symbolträchtigen Beinamen Israels - war und bleibt ein „gezärtelt Kind" des Herrn. Wenn er auch einst seiner Verfehlungen wegen aus seinem Land vertrieben wurde, so gedenkt der Herr doch Seines Volkes in Gnade. Die g-ttliche Barmherzigkeit trifft nicht nur Gerechte, sondern all die, die vor Ihm Reue zeigen können.
Die Bejahung des Lebens, die Hoffnung auf ein Weiterleben, stehen im Mittelpunkt der Liturgie der Festtage. Bildlich formuliert seufzt der Beter: „Schreibe uns in das Buch des Lebens ein, O Herr...!" Und fügt dann noch hinzu: „In das Buch des Lebens, des Friedens und der Verpflegung mögen wir eingetragen werden." Dahinter verbirgt sich die Einstellung des Talmuds. Dort wird gesagt: „ Wer uns Leben schenkt, gewährt auch das Auskommen dazu".
Im christlichen Teil der Bibel, dem Neuen Testament, kennt man die Parabel von den Vögeln des Feldes, die nicht säen und doch ernten, weil der Herr auch für sie sorgt. Die Sprache unserer Gebete bezeichnet G-tt als den Herrn, der am Leben und an der Existenz des Menschen Wohlgefallen hat. Dieser Gedanke des Gebetdichters lässt sich auf das Prophetenwort Ezechiels zurückführen: „Habe ich denn Lust am Tod des Frevlers - so sprach der Herr - nicht eher daran, dass er von seinem Wandel ablässt und lebt?" (Ezech.18:23) Dies gibt uns Hoffnung, wenn wir an den Rosch Haschana Tagen sprechen: „Gedenke unser zum Leben, O Herr, der am Leben Wohlgefallen hat."
Landesrabbiner a.D. Dr. Joel Berger
Rabbiner Joel Berger wurde 1937 in Budapest geboren und emigrierte 1968 nach Deutschland. Seither war er als Rabbiner in Düsseldorf, Göteborg (Schweden), Bremen, und Stuttgart tätig. Er ist Hochschuldozent am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen, die ihm auch den Ehrendoktortitel verlieh. Dem Autor verschiedener Arbeiten über jüdische Geschichte und Volkskultur wurde 2001 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg verliehen. Weiters ist er Sprecher der Rabbinerkonferenz Deutschland a. D. Bis 2008 war Joel Berger Mitglied im Schiedsgericht des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herausgeber und Mitglied im Rundfunkrat von Radio Bremen sowie SDR und SWR. Seit 2013 ist er Mitglied des Medienrates der LFK Landesanstalt für Kommunikation. Rabbiner Berger wurde am 26. Februar 2016 im Festsaal der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Heute arbeitet Rabbiner Berger für das Haus der Geschichte Baden-Württemberg und ist mit seiner Frau Noémi Kurator der Jüdischen Kulturwochen in Stuttgart.