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Napoleon: Die Öffnung der Ghetto-Tore und die Assimilierung

Martina MASSARO

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Laut dem Historiker Samuele Romanin sind der Abriss der Tore des Ghettos (11. Juli 1797) und die Zuweisung eines neuen Namens an das ganze Gebiet, „Stadtbezirk des Bundes"1, als grundlegend symbolische Handlungen zu betrachten, und zwar insofern, als sie das Zeichen der Absonderung nicht ausradieren konnten, das bereits mit der Bedeutung des Ghettos verbunden wurde (Romanin 1861, X, p. 222). Und doch lösten diese Vorfälle vorzeitig, im Vergleich zum Rest der Halbinsel, die Einleitung des Prozesses der jüdischen Emanzipation aus.

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Domenico Banti (letztes Viertel 18. Jh. – erste Hälfte 19. Jh.), Teodoro Matteini (1754-1831): Statue von Napoleon I. 1810-1811, acquaforte; 776 x 488 mm, Venezia, Museo Correr, Gabinetto disegni e stampe, St. p.d. 0388 gr. Inschrift (unten): Seiner Kaiserlichen Hoheit Eugène Napoleon von Frankreich / Erzkanzler des Französischen Kaiserreichs Vizekönig von Italien Prinz von Venedig / Gewidmet. Als Tribut der Verehrung von der Handelskammer von Venedig. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, MUVE Pressebüro.

Die Momentaufnahme jenes Ghettos bei der Ankunft Napoleons, zwischen Ende Juni und Beginn Oktober 1797, wird von Saul Levi Mortara in seinem Anagrafe degli abitanti2 (G. Luzzatto, 1953, pp. 194-198) festgehalten. Diese Volkszählung bietet ein Gesamtbild der Bevölkerung der venezianischen Juden am Ende des 18. Jahrhunderts, und ausserdem eine konkrete Basis für eine sozioökonomische Analyse von gewissen Interesse, als solche und noch mehr, wenn sie mit den diesbezüglichen Quellen der vorhergehenden Jahrhunderte verglichen wird. In der Tat hat die Geschichtsschreibung dank der Studien von Favero und Trivellato endlich eine Schätzung über die tatsächliche Zahl der Bewohner des Ghettos aufgrund von zuverlässigen und geprüften numerischen Daten vorgenommen. Und so ist die Annahme eines hochbesiedelten Ghettos mit Spitzen von 5.000-6.000 Einwohnern ad acta gelegt  und die Höchstzahl mit ca. 3.000 jüdischen Einwohnern vor der Pest des Jahres 1630 belegt worden. Diese Zahl konsolidierte sich im Lauf des 17. Jahrhunderts um die 2.500 Einwohner herum, abgesehen von der Abnahme, die schrittweise in Übereinstimmung mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Stadt verlief und für das gesamte 17. Jahrhundert die Zahlen nächst der Erhebung von 1797 bestätigte.

Darüber hinaus hat die analytische Beschreibung der Zusammensetzung der verschiedenen Familien und Haushalte, die uns Levi Mortara anbietet, ermöglicht, über einen langen Zeitraum ein Phänomen, das aufgrund seiner sozialen und ökonomischen Einbeziehungen von aussergewöhnlichem Interesse war, abzuschätzen und zu überprüfen: das Herauskommen der Juden aus dem Ghetto. Das Recht, frei ausserhalb der Begrenzungslinie zu wohnen, erzeugte keine unmittelbaren Effekte und schon gar nicht eine plötzliche Flucht seitens der Bewohner. Im Gegenteil, es war eine wohl überlegte Wahl der venezianischen Juden für die offensichtlichen politischen Verwicklungen, die mit dem langsamen Vorwärtsschreiten der bürgerlichen Rechte verbunden war, vor allem mit der Möglichkeit, Zugang zum Immobilienbesitz zu haben.

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Francesco Hayez (1791-1882): Innenausstattung für die Handelskammer von Venedig (Europa). 1819, affresco; 128 x 415 cm, Venezia, Palazzo Ducale. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, MUVE Pressebüro.

Sozialstruktur

Daher fällt das Herauskommen der Juden aus dem Ghetto im Wesentlichen mit dem Einstieg des jüdischen Vermögens in den Immobilien- und Bodenmarkt zusammen. Zu Beginn interessierten sich für einen Wohnsitzwechsel die wohlhabenderen Familien, die grossteils Wohnsitze in unmittelbarer Nähe der Begrenzungslinie wählten, die lange ein katalytischer Pol des täglichen Lebens blieb.

Die Gesamtzahl der Juden, die im Jahr 1797 in Venedig lebten, belief sich auf nur 1.626 (820 Männer und 806 Frauen) der ca. 137.000 Einwohner der ganzen Stadt. Gemäss der von Levi Mortara festgesetzten Gruppe der Volkszählung, machten die wohlhabenden Familien3 ca. 30 Haushalte, gesamt 98 Personen, aus.  Zu diesen zählte er männliche volljährige Personen. In dieser historischen Notlage konnten sie, wegen des Unterschieds hinsichtlich der bürgerlichen Rechte, als einzige Investitionsmöglichkeit für das Kapital die Handelstätigkeit und Darlehensgewährung wählen. Dieser Faktor veränderte deutlich den prozentuellen Anteil der Personen, die im Handel innerhalb der jüdischen Enklave beschäftigt waren, und verfälschte einen eventuellen Vergleich in Bezug auf den Rest der Bevölkerung. Das ging so weit, dass zu den 98 Personen der Kategorie C die 121 Personen der Kategorie D Kaufleute und ausreichend versorgte Künstler3a hinzugefügt wurden, insgesamt 219 Personen, die auf die eine oder andere Weise auf dem Markt aktiv waren und mehr als ein Viertel der 820 Männer ausmachten. Obwohl keine sehr ausgeklügelte Volkszählung auf dem Gebiet der demografischen Analyse für die gesamte venezianische Bevölkerung zur Verfügung stand, wären für diese Kategorie dennoch die beim Archiv der Handelskammer in Venedig hinterlegten Papiere ausreichend, die leider zur Zeit schwer zugänglich sind. Unter diesen Familienclans konnten nur zehn auf eine wirklich solide wirtschaftliche Basis  zählen. Insbesondere, wenn man den Bereich, der die Daten der gleichzeitigen Steuerkontrolle über den jüdischen Besitz betrifft, noch weiter einschränkt, waren die Familien Treves, Bonfil und Vivante die drei bedeutendsten Familien. Diese drei Familien wandten die Strategie der Selbsterhaltung des Vermögens an, indem sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihre Verbindungen mit Eheverträgen zwischen den Nachkommen stärkten. Insbesondere die Familie Bonfil, die mit der letzten weiblichen Nachkommin ausgestorben wäre, vereinte sich mit dem Betrieb Treves, und die Kinder von Iseppo Treves und Benedetta Bonfil hängten an den Nachnamen des Vaters das Prädikat mit dem Nachnamen der Mutter und wurden so zu  „Treves dei Bonfili".

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Giambattista Dalla Libera (1826-1886): Venedig leistet gegen den Österreicher Widerstand um jeden Preis - 2. April 1849. 1873, olio su tela; 152 x 252 cm, Venezia, Museo Correr, Cl. CLV n. 15. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, MUVE Pressebüro.

Der Bestand ihres Reichtums war gleich einem Drittel des Gesamtbesitzes der Bewohner des Ghettos, wie die Verteilungsquote für die Berechnung der Steuern belegt (395 von 1.200 Gesamtkaraten). Von der Prüfung der Informationen über die vermögendsten Familien - auf wirtschaftlicher Ebene wurden sie bereits von Adolfo Bernadello untersucht - wurde eine erste Kernstichprobe entnommen, mit der die zweckmässigen Kontrollen in Bezug auf Ankauf von Immobilien, Ländern und beweglichen Gütern von einem gewissen Sammlerinteresse angestellt werden können. Die identifizierten Fälle stimmen mit denen überein, die sich als erste dazu entschlossen hatten, ihren Wohnsitz ausserhalb des Ghettos zu verlegen. Es handelt sich um folgende Familien: Belilios, Errerra, Finzi, Jacur, Lattes, Levi, Pincherle, Salom, Sullam, Vivante, ausserdem Treves dei Bonfili. Die menschlichen und wirtschaftlichen Ereignisse dieser Gruppe verlaufen in einigen Fällen auf dem Territorium und vermischen sich mit jenen von anderen Familien, die aus verschiedenen Städten kamen, wie Padua, Rovigo, Ferrara, Mantua, Triest und Verona.

Darüber hinaus können wir gerade zwischen den Nachkommen dieser Unternehmer erkennen, wie viele sich in der neuen Führungsschicht der Lombardei, Venetiens und später Italiens nach der Vereinigung abwechselten. Die Durchsetzung der neuen leadership geht mit einer veränderten Hierarchie der sozialen Klassen einher. Der Emanzipationsprozess (Luzzatto Voghera 1998) der jüdischen Bürger Venedigs war eine Komponente, die auf radikale Art diesen Wandel beeinflusst hat. Basierend auf der Gleichstellung der bürgerlichen Rechte hatten sie endlich Zugang zum Immobilien- und Grundmarkt. Im Zeitalter Napoleons, mit den massiven Enteignungen und dem Versteigern der staatlichen und kirchlichen Güter, hatte das jüdische Vermögen ein entscheidendes Gewicht beim Ein- und Verkauf.

Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war die Initiative der Handelskammer von Venedig auf das Ankurbeln der lokalen Wirtschaft gerichtet und daher auf das Ankurbeln der kaufmännischen Aktivität durch die Bewilligung des freien Hafens. Der Prozess wurde mit der Einrichtung eines neuen Sitzes im Palazzo Ducale eingeweiht, erneuert und geschmückt mit den Fresken von Francesco Hayez. Das Unternehmen des Freihafens nahm mittels Bewilligung durch Napoleon im Jahr 1810 konkrete Gestalt an. Zur  Huldigung desselben wurde auf Verlangen der venezianischen Händler von San Marco auf der piazzetta, dort, wo niemand jemals die Erlaubnis gehabt hatte geehrt zu werden, die Skulptur von Domenico Banti aufgestellt. Das geschah unter der Präsidentschaft von Iseppo Treves, dem Vertreter der Händler und Bankiers. Auf ihn waren Kreditverträge ausgestellt, die die Schulden des venezianischen Patriziats abdeckten - darunter jene der Familie Querini - und an ihn über die Mitgift der Ehefrau gelangt waren; er finanzierte die Unternehmerinitiativen der aufstrebenden bürgerlichen Klasse.

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Giuseppe Borsato (1770-1849): Der Baum der Freiheit auf dem Markusplatz am 4. Juni 1797. 1797, olio su tela; 65 x 85 cm, Venezia, Museo Correr, Cl. i, n. 271. it freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, MUVE Pressebüro.

Die Familie Treves

Iseppo Treves war Erbe des Vermögens der Treves und der Bonfil und verkörperte die Generation von Juden, welche die so genannte erste Emanzipation lebten (1781 - 1814) und alle formalen Barrieren niederrissen, die ihnen den Zugang zu den öffentlichen Ämtern verwehrten. Ab 1805 war er Mitglied der Handelsabordnung und daher der neueingerichteten Handelskammer, deren Präsident er unter dem Königreich Italien ab 1807 war. Er war der erste Jude, der geadelt wurde (1811) und verfügte über einen privilegierten Kommunikationskanal mit den Behörden; auf diese Art stellte er der Kollektivität seine Intuition und seinen angeborenen Geschäftssinn zur Verfügung. Trotzdem blieb er immer bescheiden und gab nie seinen Wohnsitz im Ghetto auf, obwohl er dafür Sorge getragen hatte, dass die Söhne, Giacomo und Isacco, den Geschäften der Familie auf dem Festland mit Wohnsitz in Padua, vorstehen würden. Dort gaben diese bei Giuseppe Jappelli das Projekt eines Palazzo mit Garten in Auftrag, ein Fleckchen Erde, das ihr privater botanischer Garten wurde, Ausdruck ihres raffinierten Geschmacks und einer ungewöhnlichen intellektuellen Vielschichtigkeit, ebenso wie greifbares Zeichen des riesigen Vermögens, über das sie verfügen konnten (Massaro 2013-2014).

Das fortschreitende Verlassen der Wohnsitze im Ghetto erzeugte einen Effekt des unvermeidbaren Niedergangs, so dass das Bauwesen am Ende des Jahrhunderts überaltert und heruntergekommen erschien. Anfangs zogen nur die wohlhabenderen Familien, aber dann auch die anderen, in Palazzi in die Nähe des Ghettos. Der Palazzo Bonfadini wurde der Wohnsitz eines Zweigs der Familie Vivante, die dem Beispiel der Cousins gefolgt war, die Eigentümer des gegenüberliegenden Palazzo, der auf dem Ufer entgegengesetzt dem Canal Regio lag, geworden war. Während die Bankiers des Unternehmens Jacob Levi in den Palazzo Fontana a San Felice am Canal Grande zogen, kaufte die Familie Errara den Palazzo Contarini, genannt Ca" d"oro. Erst zu Beginn der 1830er Jahre bewegten sich andere Familien, wie Treves dei Bonfili, zu neuralgischen Zentren der Geschäfte und liessen sich in San Marco in den prestigereichsten Stadtgebieten nieder. Diese Wohnsitze wurden zum Schauplatz des politischen und kulturellen Lebens in Venedig, Teil einer idealen Reiseroute des jüdischen Venedigs, das sich in dem dichtmaschigen städtischen Gewebe abspielte.

Der Prozess der jüdischen Assimilierung fand seinen konkreten Abschluss mit der darauffolgenden Generation, die die Möglichkeit hatte, aktiv an den Unruhen von 1848 teilzunehmen und die Angelegenheit der nationalen Einheit voranzutreiben.

Assimilation

Unter den Protagonisten dieser historischen Periode waren Giacomo Treves dei Bonfili, Isaaco Pesaro Maurogonato und Abram Errera. Sie waren begabte Politiker, gebildete Mäzene und Unternehmer, die sich in Unternehmungen versuchten, die Venedig zur Modernität brachten und zwar mit dem Projekt für die Eisenbahn, der Errichtung der Brücke über die Lagune und einer infrastrukturellen Auffassung einer komplexen Stadt. Sie fanden in Daniele Manin und der provisorischen Regierung (1848-49) angemessene Interpreten des Kampfes für die Unabhängigkeit von Venedig, aber auch für die Verteidigung der bürgerlichen Rechte (vgl. Abb.: Della Libera, Venedig leistet gegen den Österreicher Widerstand um jeden Preis).

Die lange Welle der jüdischen Anwesenheit in der Lagune, über die Geschichte des Ghettos hinaus, ist lesbar in der hundertjährigen Geschichte des jüdischen Friedhofs am Lido, ein Ort, der seit 1386 dokumentiert in die Mappen der bekanntesten perticatori4 der Serenissima übertragen ist. Über die Bestandsaufnahme der Grabsteine ist es möglich, die wichtigen Teile der Geschichte der Gemeinde und die Biographien ihrer Bewohner nachzuvollziehen. Aus diesem Grund hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Giudo Costante Sullam, der vielleicht am meisten von der jüdischen Auftraggeberschaft geliebte Jugendstilarchitekt, die Restaurierung des antiken Friedhofs durchgeführt und das Eingangstor des Friedhofs, das noch heute in Gebrauch ist, neu konzipiert.

Aus dem Italienischen übersetzt von Dr.in Eva Holpfer - DAVID dankt für die Unterstützung!

  

Literaturhinweise:

Necrologio-Giuseppe Treves, «Gazzetta Privilegiata di Venezia», 1825, n. 267, lunedì 28 novembre.

Romanin 1861: S. Romanin, Storia documentata di Venezia, 10 voll., Venezia 1861.

Luzzatto 1956: Gino Luzzatto, Un"anagrafe degli ebrei di Venezia del settembre 1797, in Scritti in memoria di Sally Mayer (1875-1953). Saggi sull"ebraismo italiano, Gerusalemme 1956, pp. 194-198.

Levi 1997: Fabio Levi, Gli ebrei in Italia, Annali della Storia d"Italia, a cura di Corrado Vivanti, vol. 2, Einaudi, Torino 1997.

Luzzatto Voghera 1998: Gadi Luzzatto Voghera, Il pregiudizio dell"eguaglianza. Il dibattito sull"emancipazione degli ebrei in Italia (1781-1848), Milano 1998.

Maifreda 2000: Germano Maifreda, Gli ebrei e l"economia milanese. L"Ottocento, Franco Angeli, Milano 2000.

Levis Sullam 2001: Simon Levis Sullam e in particolare al saggio Una comunità immaginata. Gli ebrei a Venezia (1900-1938), Milano, Unicopli 2001.

Bernardello 2002: Adolfo Bernardello, Venezia 1830-1866. Iniziative economiche, accumulazione e investimenti di capitale, «Il Risorgimento», 2002, n.1, pp. 5-66.

Favero, Trivellato 2004: G. Favero, F. Trivellato, Gli abitanti del ghetto di Venezia in età moderna: dati e ipotesi, in «Zakhor», 2004, 7, pp. 9-50.

Massaro 2013-2014: M. Massaro, Giacomo Treves dei Bonfili (1788-1885): collezionista e mecenate. La raccolta di un filantropo patriota, tesi di dottorato in Storia delle Arti, Università Ca" Foscari, Iuav, Università di Verona, a.a 2013-2014, relatore D. Calabi.

Massaro c.s.: M. Massaro, Il palazzo Treves, in Ottonovecento a Padova. Profili, ambienti, istituzioni, collana diretta da M. Isnenghi, Padova c.s.

1  Unione: Bund, Vereinigung, Eintracht; Anm. d. Übers.

2  Einwohnerverzeichnis; Anm. d. Übers.

3  Im Original: Benestanti (Händler und Kaufleute); Anm. d. Übers.

3a Im Original: Bottegaj & Artisti bastantemente provveduti; Anm. d. Übers.

4  Amtliche Zeichner, Vermesser; Anm. d. Übers.