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Die jüdisch-arabische Musiksymbiose und ihre Beziehung zu Frankreich

Hélène ROUSSEL

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Jüdische Präsenz in Nordafrika ist seit über 2 000 Jahren nachweisbar. Sie ergab sich aus mehreren Einwanderungswellen. Die wichtigste resultierte aus der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel, wo sie seit der Antike ansässig waren. 1492 liess das Alhambra-Edikt der katholischen Könige der jüdischen Bevölkerung nur die Wahl zwischen Konversion und Exil. Auch die nach der „Reconquista" in Spanien verbliebenen Muslime wurden 1501 vor dieses Ultimatum gestellt und 1609 bis 1614 aus Spanien vertrieben. Unter islamischer Herrschaft florierte in Andalusien das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden und bewirkte eine epochale wirtschaftliche wie kulturelle Blüte. Ali ibn Nafi (genannt Zyriâb) spielte im 8. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der arabisch-andalusischen Musik. Der kurdische Musiker und Dichter am Hofe Harun-al-Rashids wurde aus Bagdad vertrieben und setzte sein umfassendes Wirken in Córdoba fort. Er kodifizierte diese Musik, brachte sie zu ihrer klassischen Form und bereicherte ihre arabischen und iberischen Grundlagen durch die Einbeziehung von europäischen, nordafrikanischen, persischen, byzantinischen und hebräischen Einflüssen. Am Hofe des Emirs trat er als Sänger auf und führte das System der Nubat ein. Dies bestand aus von Musikern reihum gespielten vokalen und instrumentalen Suiten. Darüber hinaus führte er die von ihm perfektionierte Oud in Andalusien ein und gründete in Córdoba die erste Musikschule in Europa, ein Konservatorium für Oud 1 und Gesang.

Ein grosser Teil der vertriebenen Sefarden siedelte sich im Maghreb an und beeinflusste die dort ansässigen Juden in religiöser und kultureller Hinsicht. Wie die Muslime brachten sie ihre reiche jüdisch-arabisch-andalusische Mischkultur aus Spanien mit, bei der die Musik eine wichtige Rolle spielte. Diese Tradition blieb im Maghreb lebendig und nahm zudem Einflüsse der Berber in sich auf. Sie wurde über viele Generationen bei Familienfeiern und in maurischen Kaffeehäusern mündlich überliefert und erst Anfang des 20. Jahrhunderts vom Komponisten Edmond Nathan Yafíl und dem Ethnomusikologen Jules Rouanet transkribiert. Bis heute bildet diese Musik im Maghreb das klassische Musikrepertoire, doch im Laufe der Zeit differenzierte sie sich in verschiedene Stilformen aus: Gharnati (abgeleitet von Granada), Sanaa und Malouf in Algerien, Malouf in Tunesien sowie Al-Âla und Gharnati in Marokko. Vom klassischen Stil kommend entwickelten sich mehrere Formen von Popularmusik: So entstanden vor Jahrhunderten der Melhoun in Marokko und der Hawzi in Algerien sowie im frühen 20. Jahrhundert der Chaâbi in Algerien und Marokko, beide vom Gharnati abgeleitet. Viele Sängerinnen und Sänger sangen sowohl religiöse als auch weltliche Lieder, wie Cheikh El Afrit und Raoul Journo in Tunesien, Alice Fitoussi in Algerien, Samy El Maghribi in Marokko. Ab den 1920er Jahren entwickelten sich Säkularisierungsprozesse, die das Verhältnis zwischen religiöser und weltlicher Musik veränderten und die Entfaltung der Popularmusik förderten. Sie veränderten auch die Stellung der Frau in Kultur und Gesellschaft. Bezeichnenderweise spielten viele Frauen schon früh eine wichtige Rolle im jüdisch-arabischen Chanson: Pionierinnen waren die charismatische Sängerin Habiba Msika in Tunesien, ein Star mit Sex-Appeal, oder Zohra Al Fassiya, die als erste Frau in Marokko Platten aufnahm. Durch diese Modernisierung der Popularmusik ab den 1930er Jahren gelangten SängerInnen und Musiker wie Lili Boniche, Blond Blond, Line Monty in Algerien sowie El Kahlaoui Tounsi, Youssef Hagège und Louisa Tounsia in Tunesien ins Rampenlicht.

Auch im Maghreb der französischen Kolonialzeit förderten neue Medien wie Rundfunk und Schallplatte im frühen 20. Jahrhundert die Verbreitung dieser Musik. In den 1930er Jahren begann Radio Alger mit Sendungen auf Arabisch und Kabylisch. Sie umfassten auch arabisch-andalusische Musik und Chaâbi sowie Rumba und Foxtrott auf Arabisch, die zu den übrigen Programmen von E- und U-Musik des Senders hinzukamen. Auch das im Oktober 1938 gegründete Radio Tunis strahlte solche Sendungen aus, ebenso das bereits 1928 als marokkanisches Staatsmonopol gesendete Radio Maroc. Jüdische Stars der klassischen und der populären arabisch-andalusischen Musik fanden Zugang zu diesen Programmen: Mit 15 Jahren wurde Lili Boniche 1936 mit einer Hawzi-Sendung von Radio Alger betraut, Cheikh Raymond bekam dort nach 1945 eine wöchentliche Sendung und auch das Orchester von Lili Labassi spielte auf Radio Alger. Sie nahmen Platten bei regionalen wie französischen Firmen auf und erzielten grosse Publikumserfolge.

Um sich besser in ihre Umwelt einzufügen, wählten sie oft arabische Künstlernamen oder arabisierten ihre Namen: So wurden Joseph Benganoun zu Cheikh Zouzou, Élie Moyal zu Lili Labassi, Élie Boniche zu Lili Boniche, Salomon Amzallag zu Samy Elmaghribi, Raymond Azoulay zu Raymond Oujdy, Simon Halali zu Salim Halali, Marguerite Msika zu Habiba Msika, Élie Touitou zu El Kahlaoui Tounsi, Issim Israël Rozzio zu Cheikh El Afrit, Louisa Saâdoun zu Louisa Tounsia. Sie alle sangen in erster Linie auf Arabisch, manchmal auch auf Französisch, wie Line Monty (Éliane Serfati). Lili Boniche, Line Monty und Blond Blond (Albert Rouimi) sangen zudem auf Franko-Arabisch, eine bei den algerischen Juden sehr populäre Mischung beider Sprachen. Lili Labassi sang auf Arabisch und Hebräisch, Salim Halali in den arabischen Dialekten des Maghrebs sowie auf Französisch und Spanisch.

Wie die meisten Juden aus Nordafrika verliess ein Grossteil der jüdisch-arabischen Sänger und Sängerinnen den Maghreb im Zuge der Dekolonisierung und verstärkter Spannungen infolge des Nahostkonflikts. Die algerischen Juden hatten ab 1870 durch das Décret Crémieux die französische Staatsbürgerschaft erhalten, die den sonstigen Algeriern vorenthalten blieb, was zu Spannungen zwischen Arabern und Juden führte, und danach hatten sie sich der französischen Lebensweise zunehmend angeglichen. Am Ende des Algerienkrieges siedelten sie sich hauptsächlich in Frankreich an, darunter die Sängerin Line Monty oder der Pianist und Sänger Maurice El Medioni. Lili Boniche, Blond Blond oder der Komponist Youssef Hagège waren schon seit den späten 1940er Jahren in Paris. Traditionell bildeten jüdische und arabische Musiker gemeinsame Orchester, doch nach Algeriens Unabhängigkeit lösten sich diese gemischten Orchester auf.

In Tunesien und Marokko war die koloniale Präsenz Frankreichs schwächer und der Zionismus stärker als in Algerien. So wanderten die tunesischen Juden in mehreren Wellen teils nach Frankreich, teils nach Israel aus, obwohl sich die tunesische Republik nach der Unabhängigkeit den Juden gegenüber um eine liberale Integrationspolitik bemühte. Nach Frankreich kamen etwa die Sänger El Kahlaoui Tounsi und Raoul Journo sowie die Musiker Isaac Kakino de Paz und Maurice Meïmoun. Auch die marokkanischen Juden wanderten in mehreren Wellen aus, mehrheitlich nach Israel, aber auch nach Frankreich (so Samy Elmaghribi, der dann nach Kanada ging), Kanada und in die USA.

Hier seien bespielweise einige Lebensläufe algerischer SängerInnen skizziert: Messaoud El Medioni, genannt Saoud l Oranais (1893-1943) war ein sefardischer Jude aus Oran und als Violinist, Komponist und Sänger ein Meister des arabisch-andalusischen Liedes im Hawzi-Stil. Er stammte aus einer Musikerfamilie und war der Onkel des Pianisten und Sängers Maurice El Medioni und der Lehrer von Lili Boniche. Im jüdischen Viertel von Oran war sein Café der Treffpunkt jüdischer und arabischer Künstler. 1938 ging er nach Marseille und eröffnete dort ein orientalisches Musikcafé. 1943 von der Vichy-Miliz denunziert, wurde er bei einer Razzia verhaftet und mit seinem Sohn im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Raymond Raoul Leyris (1912-1961), ein jüdischer Malouf-Sänger und Oud-Spieler aus Constantine, wurde als Meister seines Fachs Cheikh Raymond genannt („Cheikh" war eine Ehrenbezeichnung für von Juden und Muslimen besonders anerkannte Musiker). Sein jüdisch-arabisches Orchester hielt die arabisch-andalusische Tradition hoch. Hier spielte der Violinist Sylvain Ghrenassia und später auch sein Sohn Enrico Macias. Eine Brücke zwischen beiden Gemeinschaften bildete Cheikh Raymond, er wurde im Juni 1961 durch ein FLN-Mitglied ermordet, was den Juden in Constantine das Signal zum Exodus gab.

Salim Halali (1920-2005) galt als eine der schönsten Stimmen des maghrebinischen Chansons aller Stile, er wurde in Bône (jetzt Annaba) in einer jüdisch-berberischen Bäckerfamilie geboren. 1934 kam er nach Marseille und sang ab 1937 in Pariser Clubs Flamenco, später auch maghrebinische und arabisch-andalusische Chansons. Seine Platten wurden im Maghreb zu Verkaufsschlagern und Rundfunkhits. Während der deutschen Besatzung rettete ihm (und vielen verfolgten Juden) der Rektor der Pariser Moschee das Leben, dies vor allem durch ein falsches Attest muslimischer Identität und durch die Anstellung als Sänger im Café der Moschee. Nach 1945 knüpfte Halali an die Vorkriegserfolge an und gründete zwei orientalische Cafés in Paris, ab 1949 betrieb er in Casablanca eine luxuriöse Music Hall. Nach deren Brand ging er Anfang der 1960er Jahre wieder nach Paris, nahm Platten orientalischer Popmusik auf Französisch auf und gab dort, in Montreal und in Casablanca Konzerte. Er starb verarmt und anonym in Cannes.

Die Sängerin, Oud-Spielerin und Komponistin Sultana Daoud (1915-1998) wurde in Tiaret als Tochter eines marokkanischen Rabbiners und einer jüdischen Algerierin geboren. Mit zwei Jahren durch Pocken erblindet, wurde sie ab 16 von Saoud l Oranais zur Sängerin ausgebildet und lernte bei ihm mehrere Instrumente. Er sang mit ihr im Duett und nannte sie Reinette l Oranaise (kleine Königin Orans). In den 1940er Jahren spielte sie jede Woche Oud in einer Chaâbi-Sendung von Radio-Alger, sang bei jüdischen und muslimischen Familienfeiern und durfte sogar in einem Männerorchester singen. 1962 wanderte sie nach Frankreich aus. Halb vergessen schaffte sie in den 1980er Jahren ihr Comeback, bekam Auszeichnungen und Preise. Sie fand im Maghreb erneut breite Resonanz und gab Konzerte in Frankreich, Spanien, England und 1993 in Wien.

In den 1940er bis 1960er Jahren traten viele aus dem Maghreb nach Paris ausgewanderte Künstler mit Chansons zum Thema Exil, Trennung und Nostalgie in orientalischen Cabarets auf und waren mit Konzerten und Platten ein integraler Bestandteil der Musikszene. In den 1980/90er Jahren fand jedoch ein Niedergang der jüdisch-arabischen Musik statt, die inzwischen fast schon in Vergessenheit geraten ist. Die junge assimilierte jüdische Generation der Aufnahmeländer konnte kaum noch Arabisch. Die letzten Akteure dieser Musik verliessen den Maghreb mit wenigen Ausnahmen wie die Sängerin Alice Fitoussi. Auch die Bevölkerung wandte sich zusehends ab, im Zuge einer monokulturell definierten „Arabität" wurde der jüdisch-arabisch-andalusischen Mischkultur kein Platz mehr gewährt. Der Trend verstärkte sich durch den israelisch-arabischen Konflikt. Erst in den späten 1990er Jahren gewann diese Mischkultur sowohl im Maghreb als auch in Frankreich unter den Nachkommen jüdischer und arabischer Emigranten wieder an Bedeutung. Dies ging einher mit einer differenzierteren Sicht auf den Kolonialismus und einer Neubewertung des gemeinsamen Musikerbes. Enrico Macias trug mit seinen Konzerten zu ihrer Wiederbelebung bei. Das französische Publikum entdeckte die grossen jüdisch-arabischen Künstler durch CDs, mehrere Spiel- und Dokumentarfilme sowie im Internet. Von dieser Entwicklung zeugt auch das Projekt El Gusto der jungen irisch-algerischen Regisseurin Safinez Bousbia. Das Projekt brachte einen Dokumentarfilm hervor, der 2006 zur Gründung des gleichnamigen Orchesters mit überlebenden jüdischen und arabischen Musikern und Sängern führte, die jetzt in Algier und in Frankreich leben.

Zur Autorin

Hélène Roussel, Dr., Germanistin, lehrte von 1970 bis 2010 an der Université Paris 8 Vincennes-Saint Denis deutsche Zeitgeschichte und Literatur. Forschungen zur Kulturgeschichte und Literatur des deutschsprachigen Exils 1933-45, Schwerpunkt Akkulturation. Wichtigste Publikationen, als Hg. mit Lutz Winckler: Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933-1940 (2002), Deutsche Exilpresse und Frankreich 1933-1940 (1992); Hg. von Résistances - mouvements sociaux - alternatives utopiques (2004). Aufsätze zu Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Friedrich Wolf, Ferdinand Hardekopf, Lisa Fittko, Paul Westheim, Willi Münzenberg, Georg Bernhardt. Übersetzungen. Rundfunkarbeit.

1  Kurzhalslaute (Anmerkung d. Lektorin)