Christoph Tepperberg
Nike Thurn: »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser.
Göttingen: Wallstein-Verlag 2015
575 Seiten, 51,30 Euro
ISBN: 978-3-8353-1755-0
Dr. Nike Thurn, geb. 1982, ist eine deutsche Literatur- und Kulturwissenschafterin; 2002-2009 Studium der Angewandten Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg; 2009 Magisterarbeit zum „Literarischen Antisemitismus“; danach Mitarbeiterin an den Universitäten Trier und Bielefeld; 2013 Dissertation: »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser“ (2015 publiziert im Wallstein-Verlag); Nike Thurn arbeitet seit 2018 am Deutschen Historischen Museum Berlin.
„Warum gibt sich jemand als Jude aus? Hat man nicht genug andere Schwierigkeiten, ohne auch noch Jude sein zu wollen?“ Diese Frage des amerikanischen Kultur- und Literaturhistorikers Sander L. Gilman erscheint durchaus nachvollziehbar – und doch finden sich in der deutschsprachigen Literatur zahlreiche Figuren, die eine jüdische Identität fingieren oder von anderen fälschlicherweise für Juden gehalten werden, die irrtümlich davon ausgehen, Juden zu sein, oder von anderen zu solchen „gemacht“ werden. Das wiederholte Auftauchen solcher Figuren – über Jahrhunderte und historische Zäsuren hinweg – wirft berechtigter Weise Fragen auf: Was verraten sie über (antisemitische und philosemitische) Zuschreibungsprozesse, was darüber, was jeweils für „typisch jüdisch“ gehalten wird? Welche Rolle spielen sie bei Inszenierungen von Tätern und Opfern, von Macht und Bedrohung, Prestige und Stigma? Wozu dient das Spiel mit Identitäten, Rollen und Zuschreibungen – vor und nach 1945? Werden Stereotype „des Juden“ durch diese „falschen Juden“ fortgeschrieben – oder gelingt es hierdurch im Gegenteil, sie zu unterlaufen? Am 14. Dezember 2017 hielt Nike Thurn im Rahmen der Wiener „Simon Wiesenthal Lectures“ einen Vortrag zum Thema »Falsche Juden« in der deutschsprachigen Literatur. Zur Variation und Beständigkeit eines literarischen Motivs“. Das gab der Autorin die Gelegenheit ihr Buch auch vor einem österreichischen Fachpublikum zu präsentieren.
Der Begriff „falsche Juden“ wird in dem Buch auf zwei Ebenen abgehandelt, einerseits als gesellschaftliche Realität, andererseits – und vor allem – als Verarbeitung eines literarischen Stoffes durch ausgewählte Autoren. Nike Thurn beginnt ihre Studie zur Einführung mit erstgenanntem Aspekt. Sie bringt dazu drei interessante empirische Beispiele: „Im Juli 2010 wurde in Israel ein Mann zu 18 Monaten Haft, 30 weiteren auf Bewährung und einer Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt, weil er sich als Jude ausgegeben hatte, um eine Beziehung mit einer jüdischen Israelin zu beginnen. Trotz gegenseitigen Einvernehmens der in diesem Zusammenhang stattgefundenen sexuellen Handlungen verklagte sie ihn, als sie herausfand, dass er Nicht-Jude und Palästinenser ist – der Straftatbestand der Vergewaltigung war erfüllt, da die Beziehung unter Vorspiegelung falscher Identität stattgefunden hatte.
Im gleichen Sommer erwog die Amsterdamer Polizei, mit Hut und Schläfenlocken verkleidete Beamte als „Lockjuden“ im Kampf gegen den wachsenden Antisemitismus einzusetzen. Diskriminierungen – in den Niederlanden eine strafbare Handlung – könnten sie so umgehend zur Anzeige bringen. Ein Konzept, das man von den USA kopiert und zuvor bereits an mehreren Diskriminierungsopfern erprobt habe: Im Einsatz seien bereits „Lock-Huren“ und „Lock-Homos“ – zudem eine „Lock-Oma“, die jedoch nicht gegen die Altersdiskriminierung, sondern gegen Taschendiebstahl undercover agiere. Ahmed Marcouch, der die Aktion initiiert hatte, gab als Grund an, dass mancher niederländische Jude durch die zunehmenden antisemitischen Angriffe inzwischen darauf verzichtet, eine Kippa, die traditionelle Kopfbekleidung, zu tragen. Umgekehrt bemerkte der Direktor des Centrums Informatie en Documentatie Israel (CIDI), Ronny Naftaniel, er glaube, dass es abschreckend ist, wenn Täter wissen, nicht alle Menschen mit einer Kippa sind Juden, sondern auch Polizisten. [...]
Im August 2012 wurde in Berlin ein Rabbiner auf offener Strasse und vor den Augen seiner siebenjährigen Tochter überfallen und schwer verletzt. Der Leiter des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs, Walter Homolka, riet seinen Studenten daraufhin davon ab, öffentlich eine Kippa zu tragen und sich so zu „erkennen“ zu geben: Offenbar ist man nur sicher, wenn man als Jude nicht mehr sichtbar ist. Eine Solidaritätsaktion einige Tage später drehte das Prinzip jedoch um: Zahlreiche Politiker, Schauspieler und Musiker der Stadt liessen sich mit Kippa ablichten und riefen die Bevölkerung dazu auf, ebenfalls eine zu tragen.“ (Tätliche Angriffe auf Juden in Berlin, insbesondere auf jüdische Schüler, haben inzwischen signifikant zugenommen. Dies gibt der Öffentlichkeit und auf politischer Ebene verstärkt Anlass zu Diskussionen darüber, wie man diesen Missstand in den Griff bekommen könne.)
Und die Autorin weiter: „Zahlreiche Aspekte der vorliegenden Untersuchung werden an diesen Beispielen, die sich während der Arbeit an ihr in Europa und Israel ereigneten, offenbar. Sie alle treffen Aussagen darüber, was als „typisch jüdisch“ gilt, enthalten Behauptungen und Wiederlegungen der Sicht- und Erkennbarkeit „der Juden“: Sie zeigen das Interesse an und das Bedürfnis nach diesen Kategorien, manifestieren die Bedrohung, die weiterhin von ihnen ausgeht, offenbar aber auch, wie manipulier- und daher fehlbar sie sind.“ (S.11-14)
Das zentrale literaturwissenschaftliche Anliegen der Studie wird in den Abschnitten »Falsche Juden« als Produkt der Theorie« und »Falsche Juden als Thema der Literatur« abgehandelt, wobei die Autorin anhand von fünf paradigmatischen Textpaaren die erstaunliche Bandbreite dieses literarischen Motivs erläutert. Details dazu findet der Leser in der ausgezeichnete Rezension von Linda Krenz-Dewe, in: H-Soz-Kult vom 01.11.2016.
Durch ihre Analyse trägt Nike Thurn wesentlich zum Verständnis anti- und philosemitischen Projektionen des „jüdischen Andersseins“ nicht nur in der Literatur, sondern auch in der sozialen Realität bei. Wie die Autorin anschaulich darlegt, haben auf Erkennbarkeit setzende, machtvolle „Bilder des Anderen“ kaum etwas von ihrer Wirkmacht eingebüsst. (S. 13-14 u. 538) Die Studie ist umfangreich, akribisch gearbeitet, erreicht ein hohes Abstraktionsniveau, ist somit in jeder Hinsicht anerkennenswert.