Ausgabe

PESSACH 5780/2020

Rabbiner Joel Berger

Ein befreites Sklavenvolk verlässt Ägypten.
400 Jahre Exil hat es hinter sich, davon 210 Jahre in
unerträglicher Versklavung.

Inhalt

Sechs Tage lang ziehen die Kinder Israel durch die Wüste. Während des Tages zieht die Wolkensäule vor ihnen her und in der Nacht die Feuersäule zu ihrer Beleuchtung. Und am fernen Horizont –  „...nach Osten hin, vorwärts“ –  das versprochene Land, das Land Israel. Zwar ist der Weg noch weit, doch scheint es, als wäre er mit Leichtigkeit zu bewältigen.

 

Aber plötzlich wird es den Israeliten schwarz vor den Augen. Von vorne zeigt sich das tosende Meer. Von hinten –  rücken die ägyptischen Verfolger heran.  Und von den Seiten – „die grosse, furchtbare Wüste…“ (5.B.M.8:15). Sind sie in eine Sackgasse geraten?

 

Verunsicherung macht sich breit. Wo ist G’tt und Moses, sein Prophet? Was wird jetzt aus all den Versprechungen über vollkommene Erlösung und kurz bevorstehenden Errettung?

 

„Warum liessen wir uns überreden, unsere Häuser aufzugeben und alles in Ägypten hinter uns zu lassen, nur um uns auf einen Weg zu machen, der in den Untergang führt?“

 

Im Herzen des Lagers werden vier Stimmen vernehmbar. Zwischen den Zeilen der Verse lesen unsere talmudischen Weisen diese vier Stimmen, die im Midrasch Mechilta geschildert werden:  Vier Gruppierungen standen am Schilfmeer.

 

Die erste Gruppe war dafür, sich ins Meer zu stürzen, da ja doch alles verloren ist. Über sie lesen wir in der Bibel: „Unsere Väter in Ägypten wollten Deine Wunder nicht verstehen; sie gedachten nicht an Deine grosse Güte und waren ungehorsam am Meer, am Schilfmeer.“ (Psalm 106,7) Und diese waren es auch, die zu Moses sagten: „Waren nicht genug Gräber in Ägypten, dass du uns musstest wegführen, dass wir in der Wüste sterben?“ (2.B.M. 14:11).

 

Die zweite Partei wirbt für die Rückkehr nach Ägypten. Sie sagen: „Der ‚Weg der Erlösung‘ war ein Irrtum. Vor allem muss man das Erreichte bewahren.“ Und weiter sprachen sie: „Denn besser war es für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben.“ (2.B.M. 14:12).

 

Die dritte Partei tritt für den Kampf mit den Ägyptern ein, um in Ehren den Heldentod zu sterben und so in die Geschichtsbücher einzugehen.

 

Die vierte Partei schrie zu G’tt in grossen Kundgebungen; heute würden wir es vielleicht sogar eine Massendemonstration nennen, wie es heisst: „... und die Kinder Israel fürchteten sich sehr und schrien zum Ewigen.“ (2.B.M. 14,10).

 

Der Herr geht auf alle vier Parteien ein; jede bekommt eine passende Antwort: „Und Moses sprach zum Volk:  Fürchtet nichts! Und verzweifelt nicht“ (2.B.M.14:13). „Denn die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr fortan nicht wieder sehen bis in Ewigkeit.“ Es gibt also keinen Grund, nach Ägypten zurückzukehren. „Der Ewige wird für euch streiten!“ (2.B.M. 14:14)

 

Ihr braucht euch nicht in einen heroischen Kampf zu stürzen, nur um hinterher verkünden zu können, ihr hättet aber gekämpft. „Ihr möget still sein“ –  jetzt ist nicht die Zeit für Gebet und Wehgeschrei, sondern für positive Taten des Aufbaus.

 

Die Kinder Israel hören und wundern sich. Was sollen sie in dieser schweren Stunde denn tun, wenn nicht sich selbst aufzugeben, oder zu kämpfen oder wenigstens zu beten und zu flehen?! Ganz einfach – weitermachen! Vorwärts!!

 

Und so sprach G’tt zu seinem Diener Moses: „Rede zu den Kindern Israel, dass sie aufbrechen!“ (2.B.M. 14:15).

 

Die Kinder Israel ziehen weiter und verstehen nicht, was vorgeht. Die Bedrohung erdrückt. Die Ägypter kommen näher.  Die Wüste umschliesst sie. Und von vorne –  das Meer. Sie erreichen das Ufer, die Wellen umspielen ihre Füsse, die Salzluft gerbt die Haut; doch das Meer stürmt und die Verzweiflung kehrt wieder ein und steigert sich noch. Was sollen sie jetzt tun, am Rande des Abgrunds und des Schlunds der Erde?

 

Auch darüber berichten die Weisen im Midrasch Mechilta, der exegetischen Literatur: „Als die Israeliten am Ufer des Meeres standen, stritten die Stämme miteinander. [...] Der eine sagt: Nicht ich gehe zuerst hinab ins Meer, und jener sagt: Nicht ich gehe zuerst hinab ins Meer. Wie sie sich noch miteinander beraten – springt der Stammesführer Nachschon, der Sohn Aminadaws in die Wellen des Meeres und sein Stamm hinterdrein.“

 

Angesichts dieser Opferbereitschaft, dieses starken Glaubens, erwachen alle mit gespannter Erwartung. Was wird jetzt geschehen? Aber nichts geschieht, und die vier genannten Stimmen kommen wieder jedem in Erinnerung. Und dann – sagen uns die Weisen im Midrasch: „Teilte sich das Meer erst, als ihnen das Wasser bis an die Nase reichte, und danach wurde es ihnen zu trockenem Boden. Erst dann teilte sich ihnen das Meer und sie gingen durch das Meer im Trockenen, und sangen dem Ewigen ein Loblied“.

 

Und auch wir stehen so oft vor den vier Stimmen, die uns vom Schilfmeer her erschallen und erkennen darin unsere eigenen inneren Konflikte. Sollten wir lieber dieser oder jener Partei folgen? Sollten wir lieber soweit wandern, bis wir eine neue Partei gefunden haben, wie es sie damals noch nicht gab? Und inmitten all dieser Stimmen hören wir wieder und wieder die Stimme G’ttes, die zu Moses spricht: „Fürchtet euch nicht, stehet fest und sehet zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn diese Ägypter, die ihr heute sehet, werdet ihr nimmermehr sehen ewiglich…  Rede zu den Kindern Israel, dass sie aufbrechen!“ (2.B.M. 14:13-15), trotz alledem und gegen alle Widrigkeiten. Da fragen wir uns: Wird uns auch in unserer heutigen Zeit vergönnt sein, was unseren Vorfahren in jener Zeit geschah? Wird sich auch vor uns das Meer teilen? Oder wird sich G’tt für die Erlösung einen anderen Weg wählen, einen längeren oder einen kürzeren, einen schweren oder einen leichten, einen geraden  oder einen verschlungenen?

 

Die Hoffnung stärkt uns, doch an der Fügung G’ttes festzuhalten, wie in den Psalmen geschrieben steht: „Leite mich in Deiner Wahrheit und lehre mich! Denn Du bist der Ewige, der mir hilft; täglich harre ich Dein.“