In den Nachkriegsjahren, zu einer Zeit, als man nicht nur die Menschen „über der Strasse“ kannte, sondern auch die, die nur noch in der Erinnerung präsent waren oder lebten, hatte auch das Haus noch einen Namen. Sie nannten es das Hungerleider-Haus. Wenn man dem alten Schlossermeister in der nahen Heinestrasse, der in den 70er-Jahren nahe dem 90. Lebensjahr war, glauben konnte, war dieses Haus in seiner Erinnerung schon immer da gewesen und eines der ältesten Zinshäuser der Gegend, wo die meisten anderen erst um die Jahrhundertwende erbaut worden waren. Es war ein unscheinbares, altersgraues Haus, von dem nur das Geflügelgeschäft auffiel. Seinem ehemaligen Besitzer verdankte das Haus auch seinen Namen, der nichts mit Hunger leiden zu tun hatte. Hungerleider hiess „vor dem Krieg“ der Haus- und Geschäftsbesitzer. Die Phrase „vor dem Krieg“ wurde für Vieles verwendet, für die Vorkriegsqualität ebenso wie für spätere Ereignisse, die man lieber umschrieb, als sie offen auszusprechen. Ein „nach dem Krieg“ gab es für Simon Hungerleider nicht mehr, auch ein „im Krieg“ nicht.
Das Haus hatte einen zweiten Trakt für Büros im Hof, eine „Hausherrnwohnung“ mit Deckenfresken und eine von dort über eine kleine Stiege erreichbare Terrasse oberhalb eines Arbeitsraums im Hof, und sieben weitere Wohnungen auf drei Stockwerken, im 2. und 3. Stock mit Wasser an der Bassena und vom Gang betretbare Gemeinschaftsklos für die jeweils zwei kleinere Wohnungen. Im Erdgeschoss war noch eine kleine Süsswarenmanufaktur (die den Kindern nie etwas abliess) und von der Hauseinfahrt zugänglich eine aus zwei dünnen Schläuchen bestehende Concierge-Loge. Dazu kamen noch ein geräumiger Keller und der Dachboden, beide mit selbst zusammengetischlerten Abteilen, im Keller vor allem für Kohle, Koks und Brennholz genutzt.
Hier spielte sich die kleinere Wiener Welt ab, in der sich die grosse spiegelte, vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg. Hier verbrachte ich ab 1943 meine Kindheit und Jugendzeit.
In diesem Haus stürzte sich ein wohlhabender und vermeintlich glücklich Verheirateter nach dem Anschluss Österreichs in den Selbstmord um der weiteren Verfolgung und Demütigung als Jude zu entgehen, sowie vermutlich aus persönlicher Enttäuschung. Hier übernahm die „arische“ Ehefrau nach der dem Selbstmord vorangegangenen Scheidung Haus und Geschäft. Auch in diesem Haus gab es Übergriffe während des Novemberprogroms, die für einen Hausbewohner zum Transport nach Dachau führten, wo er schon nach wenigen Monaten ermordet wurde. Hier wurde dann eine der grösseren Wohnungen zu einer sogenannten „Sammelwohnung“, in der mehrere jüdische Familien vor der Deportation zusammengepfercht wurden. Von hier wurden die jüdischen Bewohner, „ursprüngliche“ ebenso wie die hierher „gesammelten“ in die Vernichtung nach Litzmannstadt (Łódź), Maly Trostinec, Modliborzyce und Theresienstadt deportiert. Nach „Freiwerden“ der Sammelwohnung wurde diese einem jungen Wehrmachts-Unteroffizier zugewiesen, der ein Jahr zuvor geheiratet und andere ihm von der Wehrmacht angebotene Wohnungen (von Juden) abgelehnt hatte, weil sie bewohnt waren. Von hier wurden auch andere jung verheiratete Männer zum Kriegsdienst einberufen, von denen nur zwei aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten. Einer blieb als „vermisst“ an der Ostfront. Die hinterbliebene Ehefrau sollte sich noch ihr ganzes Leben lang an dieses Wort klammern, in der Hoffnung, eines Tages stünde der Vermisste vor ihrer Türe. 1944 zerstörte eine Fliegerbombe den Hoftrakt; Bewohner des Hauses und Mitarbeiter der beiden Geschäfte überlebten den Bombenangriff im Keller des Strassentraktes. Nach dem Ende der Naziherrschaft wurde noch einer jungen Frau, die mit Kriegsende dem Gefängnis, wo sie wegen Hörens eines Feindsenders sass, entkam, ein Untermietzimmer in der Dreizimmerwohnung des ehemaligen Unteroffiziers zugewiesen. Schliesslich bekam das Haus noch den Zuzug eines aus dem Sudetenland heimatvertriebenen älteren Ehepaars, das als Hausbesorger ein Mini-Einkommen und eine Dienstwohnung in der beengten Concierge-Loge bekam.
Die Personen im „Hungerleiderhaus“ existier(t)en, von einigen gibt es Nachkommen, nur einer wohnt im Hause selbst. Die Juden kommen mit ihrem wirklichen Namen vor (soweit bekannt) auch um ihr Andenken zu bewahren und vor dem Vergessen zu schützen. Gestapo, SA, SS und andere NSDAP-Vertreter werden, allerdings aus gegenteiligen Gründen, soweit noch eruierbar, beim Namen genannt, um sie nicht hinter anonymen Organisationen und verbrecherischen Strukturen zu verstecken.
„Hungerleiderhaus“: Informationen gesucht
Über das Haus Nr. 10 in der Josefinengasse (2. Wiener Gemeindebezirk) und das Schicksal seiner bis zur Nazi-Herrschaft vorwiegend jüdischen Bewohner werden Informationen zur Vorbereitung eines Buches gesucht. Das Haus war bis zur Nazi-Herrschaft und darüber hinaus noch bis in die 50er-Jahre als „Hungerleiderhaus“ nach dem Besitzer des Hauses und der Geflügelhandlung bekannt. Simon Hungerleider soll nach dem „Anschluss“ Selbstmord verübt haben. Im Haus gab es auch eine Süsswarenmanufaktur. Gegenüber der Hausnummer 10 gab es in der Josefinengasse 7 ein Vereinsbethaus Meischisch Jeschuah (Hilfereichung), dessen Obmann Samuel Sperling war. Eine grössere Wohnung wurde von den Nazis zu einer „Sammelwohnung“ als Zwischenschritt bis zur Deportation gemacht, über die zwangsweise in dieser Wohnung Untergebrachten ist leider nichts bekannt. Bekannt ist, dass die Hausbewohner David Goldmann, geb. 1865, deportiert 1941 nach Modliborzyce; Emilie, geb. 1884 und Viktor Sruh, geb. 1881, deportiert 1941 nach Litzmannstadt; Siegmund Unger, geb. 1897, deportiert 15.11.1938 nach Dachau; Berthold Wessely, geb. 1886, deportiert 1942 nach Theresienstadt, in der Shoa ermordet wurden. Informationen werden an hungerleiderhaus@a1.net erbeten!
Dr.Walter Schwimmer, Abg.z.NR a.D.,
Generalsekretär des Europarates a.D.