Ausgabe

Stiller, kindlicher Beobachter

Kerstin Kellermann

Als Folge seiner unerklärlichen Erfahrungen als Kind im Wien der NS-Zeit befindet sich Kurt Lauer in einer Art Beobachtungs-Einstellung zum Leben. Obwohl er lange Jahre als Kardiologe in New York arbeitete und zum Korea-Krieg eingezogen wurde, blieb er auf eine Art aussen vor. Zu Besuch in Amerika bei dem 91-jährigen Wiener Kurt Lauer.

Inhalt

Er liebt Gedichte und liest gerne laut vor: „Zwei Elefanten, die sich gut kannten“, aus dem Kinderbuch von Mira Lobe, „hatten vergessen, ihr Frühstück zu essen.“ Ein entzücktes Lächeln. Das italienische Buch Kindern die Shoah erklären über die bedrohten Näh- und Stecknadeln studiert er ganz genau. Aber am liebsten sind ihm immer noch Ruth Klügers Gedichte aus dem Buch Zerreissproben: „Blinde Stadt, die ein Kind sandigen Auges verbannte. Menschenleere: was soll mir dieser Wind von einem anderen Meer?“

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Kurt Lauer Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.

Der 91-jährige Kurt Lauer sitzt in seinem riesigen Ledersessel in einem Vorort von New York, eine halbe Stunde mit der Metro Train North den Hudson River hinauf. Nachdenklich schaut er auf das Gewusel der fünf Hunde vor seinen Füssen, die sich mitten im Wohnzimmer der Familie fröhlich amüsieren. Jeden Tag denkt er sehnsüchtig an Wien. Trotz schlechter Erfahrungen als Kind: „Gehen Sie nicht auf die Taborstrasse, denn dort jagt und fängt man Juden, warnte uns ein Passant, als wir einmal das Haus meiner Tante in der Castellezgasse verliessen. Wir liefen sofort zum Taxistand am Augarten, obwohl wir für gewöhlich kein Taxi nahmen, denn die Fahrer waren oft  betrunken.“ Doch auch am Augarten wurden „Juden in die Elektrische eingezwungen“ und das Taxi fuhr schnell in die andere Richtung, „sodass wir entkommen sind“.

 

Sein Vater werkte für einen späteren Hitler-Attentäter. „Mein Vater arbeitete als Anwalt mit österreichischer Lizenz für den deutschen Rechtsanwalt Alfred Etscheid. Herr Etscheid war dabei, als man eine Aktentasche mit einer Bombe bei Hitler zurückliess. Die explodierte, aber Hitler war nicht mehr im Zimmer und es hat nichts genutzt. Etscheid wurde eingesperrt und erschossen.“ [Laut Google starb Anwalt Etscheid nach seiner Haft im KZ Ravensbrück 1944 im KZ Flossenburg; Anm. der Autorin]

 

 

 

Das geliebte Wohnhaus

Die Erinnerungen eines Zehnjährigen sind sehr spezifisch - sein schönes Deutsch, gespickt mit altmodischen Ausdrücken, auch. Jeden einzelnen Tag kommt die Rede auf seine drei Tanten. Die eine Tante wurde, genauso wie ihr Ehemann, im Konzentrationslager ermordet. Die zweite wurde Opfer eines Heiratsschwindlers („Sie ging nach der Hochzeit hinaus und man sagte ihr, der Mann sei nicht mehr da. Man sah ihn nie wieder. Mein Vater hatte schon den Verdacht gehabt, dass das Geld das Ende der Hochzeit sein wird.“). Diese Tante überlebte als Dienstmädchen eines Arztes in Budapest. Die dritte pendelte später zwischen Palästina und New York. Warum Kurt Lauer nonstop seine Tanten erinnert, weiss die Tochter auch nicht. Irgendetwas hat sich verhakt in seinem Denken als Neffe.

 

„Einmal starrte mich ein Mann in dem Biersalon in unserem Hause lange an. Das war mir unangenehm“, erzählt das „alte Kind“ plötzlich. „Ich habe nichts gesagt, aber es war dieser Mann, der später unsere Wohnung übernahm. Ein Nazi.“ In seinem Haus in der Döblinger Hauptstrasse gab es nämlich unten ein Lokal und eine Bierhandlung. „Mitten beim Essen habe ich gesehen, wie er hereinkam, und er setzte sich hinten nieder, ohne etwas zu bestellen. Er war ein Nazi-Gast. Er hat mich sofort erkannt.“ Als was erkannt? Der Junge fragte die Tante, mit der er im Gasthaus war, nicht um Unterstützung. Warum nicht? „Dieser Nazi hat mir nichts getan, er hat mich nur angestarrt. Ich wollte mich sogar umdrehen, wegen seiner Blicke. Wir hatten eine schöne Wohnung mit vier Zimmern.“ Seinen Eltern erzählte er nichts von dem Vorfall, so wie er auch nie fragte, warum sie wegmüssten, und was diese Nazis eigentlich gegen Juden hätten. Er hinterfragte nicht, sondern beobachtete. Ein Zehnjähriger eben, der seine Beobachtungen für sich behält und alleine in seinem Inneren verwahrt. „Man hat mir gar nichts erklärt, und das war es“, sagt er heute dazu. „Man hat doch gewusst, man muss weggehen, sonst wäre man ins KZ gekommen.“

 

Bei jedem Wien-Besuch stand er im Rollstuhl vor seinem alten Wiener Kindheits-Wohnhaus und betrachtete es stundenlang von aussen. „Mein Vater kaufte unser Haus gemeinsam mit Doktor Silber, der es später verkaufte. Silber ist noch vor uns nach New York. Unsere Wiener Nachbarn, die Familie Zoch, beging später in New York Selbstmord. Er war ein Wurst-ecken-Händler. Nein, wir haben das Haus nicht zurückbekommen. Geben Sie mir den Gehsessel“, sagt er und schreitet resolut davon.

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„Sehe mir das Leben an“

Auch in Amerika hielt der Junge an seinen Beobachtungs-Gewohnheiten fest: „Ich sehe mir das Leben an“, beschreibt er die eigene Verhaltensweise. Im amerikanischen Philadelphia sass er den ganzen Tag am Fenster und betrachtete „die grosse Strasse, die Girard Avenue. Die Lastwägen, den Poolroom, das Kino, einen Barbershop, die Driver’s School und eine Apotheke – die Gegend. Es hat mich interessiert, wer dort die Strasse auf und ab geht. Meine Mutter war nicht dafür, mich aus dem Haus zu lassen.“ Der Junge wollte viel lieber in Wien wohnen und hatte Sehnsucht. „Philadelphia war ziemlich schrecklich. Aber es gab einen schönen Poolroom in der Girard Avenue. Doch dann wurde Krieg erklärt, und der Poolroom wurde leer, weil alle zum Militär mussten.“

 

Seine Mutter stammte aus Brody nahe Lemberg und hiess ursprünglich Friederike Rapoport. Sie liess ihren Sohn Hebräisch lernen, und er wollte auch die Aufnahmeprüfung für das hebräische Gymnasium machen: „Als wir in das Wiener Gebäude kamen, war nur ein einziger Mensch dort, der Oberlehrer. Er sagte, es tut mir sehr leid, ich gäbe dem Jungen die Prüfung, aber ich glaube nicht, dass ich dafür in Wien bleiben werde.“ Kurt Lauers Vater stammte aus Busk und konnte sehr gut Hebräisch und Polnisch. In Österreich durfte er offiziell als Dolmetscher für Polnisch und Russisch auftreten. „Die Döblinger Synagoge stand in einem sehr schönen Park“, erinnert sich der 91-jährige Kurt Lauer plötzlich. „Wir haben an G‘tt geglaubt.“ Heute macht er Scherze über seine Cousine, die koschere Cookies und ihren vierten Mann, einen Rabbiner, zu Besuch mitbringt. Er selbst findet sich als nicht mehr religiös. „Too many bad memories“, zuckt die Tochter zu dem Thema mit den Schultern und bestellt When Hitler Stole Pink Rabbit von Judith Kerr über ihr Handy. Hinter Kurt Lauer, dem alten Wiener, steht aber hoch oben auf dem Kasten eine riesige, schwere, silberne Menorah, die der Vater auf der Flucht im Koffer mitschleppte. „Der Zöllner schaute nur oberflächlich, sonst hätte man sie den Juden weggenommen.“