Das stille und schreiende Denkmal für Juden, von deren Existenz es keine
Spuren mehr gegeben hatte.
Wer in den Strassen des idyllischen österreichischen Städtchens Neunkirchen spazieren geht, dem springen hier und dort goldglänzende, in die Bürgersteige eingelassene Platten ins Auge. Die Neugier zwingt den naiven Passanten, den Blick zu senken und die blinkende Fliese, die sich von ihrer grauen Umgebung auffallend abhebt, näher zu betrachten. Auch wenn er nur den Blick senkt und für den Bruchteil einer Sekunde innehält, wird er bemerken, dass in diese Fliese ein Name eingeritzt ist. Auf bescheidenen 10 Quadratzentimetern ist gerade Platz für Namen, Todesdatum und Todesart des Opfers, das an dieser Adresse einmal gewohnt, gearbeitet oder gelernt hatte. Mehr erfahren wir nicht. Nicht mehr als diese Zeile, die das Leben eines Menschen zusammenfasst. Eines Menschen, der von dem Ort verschleppt wurde, an dem heute diese Fliese liegt, vor dem Hauseingang eines Juden, Roma oder eines anderen Opfers des Naziregimes, das von hier auf den letzten Weg gezwungen wurde.
Intime Erinnerung oder Erniedrigung
Über das Projekt des in Berlin geborenen Architekten und Künstlers Gunter Demnig ist schon viel geschrieben worden. Er wählte den Weg, der Naziopfer vermittels einer kleinen persönlichen Erinnerungstafel vor dem Gebäude zu gedenken, wo sie sich sicher wähnten, das sie für ihr Heim hielten, das ihnen aber den Rücken kehrte. Sie treten aus dem Bürgersteig hervor, damit wir stutzen und sie bemerken, den Kopf senken und des Opfers gedenken. Eine Erinnerungsplakette, klein, bescheiden und anrührend, an den Menschen, der diesem Ort verbunden war. Im Gegensatz zu den mächtigen Denkmälern ist es hier die Intimität, das nur scheinbar trockene Detail, das uns betroffen macht.
Nun gibt es natürlich auch Leute, die behaupten, das Gedächtnis an die Toten würde geschändet, weil Passanten mit ihren Schuhsohlen auf die Stolpersteine treten. Bei einem Spaziergang durch die Strassen Wiens sah ich viele dieser Messingplatten. Es ist sehr bewegend, vor einem solchen Andenken zu stehen, den Kopf zu senken und des Menschen, dessen Namen man liest, zu gedenken. Angesichts der vielen vorbeieilenden Passanten, die ohne hinunterzublicken auf die Stolpersteine traten, und der schnüffelnden und ein Bein hebenden Hunde beschlichen mich persönlich gemischte Gefühle. Einerseits ist die Idee einer persönlichen, ortsgebundenen Erinnerung tröstlich, anderseits ist es erniedrigend, wenn viele Leute, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Stolpersteine hinweggehen. Manche haben sich gegen diese Art des Gedenkens ausgesprochen; sie führen an, man habe genug auf den Juden herumgetrampelt und dies müsse nicht fortgesetzt werden. Andere dagegen betrachten die Stolpersteine als eine Art Ehrenbezeugung: Man senkt den Kopf und gedenkt der Opfer.
Neun Gräuel
Das Städtchen Neunkirchen, in dem es nun auch Stolpersteine gibt, liegt in Niederösterreich. Erste Dokumente über die Anwesenheit von Juden stammen aus dem 14. Jahrhundert: eine Einwohnerliste aus dem Jahr 1343 enthält die Namen von vier jüdischen Familien. Von der Vertreibung der Juden aus Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten im Jahr 1496/97 waren auch die in Neunkirchen lebenden Juden betroffen. Damals nannten die Juden den Ort „Neun Gräuel“, denn sie vermieden es lieber, das Wort „Kirche“ auszusprechen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liessen sich wiederum Juden in Neunkirchen nieder, die neue Gemeinde wurde im Jahr 1896 gegründet. Die Zahl der jüdischen Einwohner stieg kontinuierlich: im Jahr 1932 waren es 496, die mit Synagogen und eigenen karitativen Einrichtungen ein aktives jüdisches Leben führten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde ein Teil von ihnen in den Lagern ermordet, anderen gelang die Flucht in andere Länder. Auch meine Familie, die seit 1885 bis zu ihrer Vertreibung im Jahr 1938 in Neunkirchen ansässig war, blieb nicht verschont. Ihre Geschichte ist typisch für die der jüdischen Familien in jener Zeit.
Einer meiner Verwandten, Siegmund Preis, wurde kurz nach dem Anschluss im Jahr 1938 ermordet, ein anderer wurde nach dem Novemberpogrom („Kristallnacht“) nach Dachau geschickt, entkam jedoch von dort mithilfe eines teuer bezahlten Zertifikats und gelangte nach Erez Israel. Meine Grossmutter und zwei ihrer Schwestern, Anna Lakenbacher und Gisela Preis, waren 1939 unter den tausend Flüchtlingen aus Wien, von denen am Ende nur zweihundert Erez Israel erreichten („Kladovo-Sabac“.) Die Grossmutter konnte sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, doch ihre beiden Schwestern wurden ermordet. Mein Grossvater wurde ins Ghetto Lodz gebracht und kurz nach seinem Eintreffen dort ermordet. Meine Mutter kam mit einem Kindertransport nach Erez Israel, während andere Verwandte gezwungen waren, sich auf den Weg nach Ecuador zu machen, wo sie ein Einreisevisum erhalten hatten.
Stolpersteine werden akzeptiert
Der Stadtrat Neunkirchen im Verein mit anderen Trägern, zu denen auch die Kirche gehört, hat es auf sich genommen, die Erinnerung an die jüdischen Mitbürger zu pflegen. Bei einer Feier in der Kirche sprachen Vertreter der Kirche und der Stadt und betonten die schmerzliche Tatsache, dass Österreich, nach einer langen Zeit seit dem Ende des Krieges, sich zu seinem Anteil an der Ermordung der Juden bekannt hat.
Bei einer weiteren beeindruckenden Feier war Gunter Demnig anwesend. Viele der Einheimischen kamen, um die Opfer zu ehren. Im Laufe der Jahre wurden weitere Stolpersteine an verschiedenen Orten der Stadt verlegt. In Anwesenheit des Bürgermeisters, seines Stellvertreters, einiger Repräsentanten von Stadtrat und Kirche und vor zahlreichen Bürgern fand wiederum eine bewegende Gedenkstunde statt. Gunter Demnig, der Künstler, der das Erinnerungsprojekt ins Leben rief, sagte während der Zeremonie, es sei wichtig zu erkennen, dass normale Bürger zumindest passiv mit den Nazis kooperierten. Sie hätten wissen müssen, dass in jedem Winkel ihres Landes Juden ermordet wurden. Deswegen habe er seine Stolpersteine bisher in zahlreichen österreichischen Dörfern und Städten verlegt.
„Die Erinnerung an ein Opfer bleibt erhalten, solange sein Name erhalten bleibt“ – mit diesem Satz erklärte Demnig den Anwesenden den Hauptbeweggrund hinter seinem künstlerischen Anliegen, das im Laufe der Jahre zu einem Lebenswerk geworden ist. Er möchte den Prozess des Verlegens der Stolpersteine zu einem Lernprozess insbesondere für die Jugend machen. So entwickeln beispielsweise Schulen einen Unterrichtsplan, in dessen Verlauf die Schüler sich über das Schicksal eines Opfers informieren, das in ihrer Nähe lebte. Sie erkunden auf diese Art die dunkelste Epoche in der Geschichte ihres Landes.
Eine der Teilnehmerinnen an der Feier sagte, dass die in allen Vierteln der Stadt verlegten Stolpersteine ihr vor Augen geführt hätten, dass das Unheil allerorten geschah. Sie endete mit der Frage: „Wieso haben sie nicht gesehen, was passierte?“
Dr. Rafaela Stankevich
Dr. Phil., Historikerin auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte. Lehr- und Forschungstätigkeit an der Tel-Aviv Universität, Bar-Ilan Universität-Israel und am Institut für Judaistik der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialgeschichte der österreichischen Juden in der Neuzeit; Antisemitismus in Österreich, Holocaust (Schwerpunkt Burgenland) und Einwanderung von Juden aus Österreich in Erez Israel. In den letzten Jahren lebt sie in Wien und befasst sich mit Postdoc Studien, Lektorin am Institut für Judaistik der Universität Wien, Kursleiterin an VHS Wien und Akademische Beraterin und Content Managerin von Homepage Webseiten.