Ausgabe

David Gutmann und das israelitische Mädchenwaisenhaus in Wien-Döbling

Ursula Prokop

In Wien- Döbling in der Ruthgasse 21 steht ein gross dimensionierter roter Backsteinbau, der mit seinen mittelalterlich anmutenden  Stufengiebeln und dem zentralen Säulenportal im romanischen Stil für ein Wohnhaus etwas ungewöhnlich wirkt. Nur wenn man weiss, dass das Gebäude ursprünglich ein Mädchenwaisenhaus aus dem späten 19. Jahrhundert war, erklärt sich diese romantische Aussen-
erscheinung.

Inhalt

Das in den Jahren 1890/91 errichtete Heim verdankt sich den Brüdern Wilhelm (1826-1895) und David Gutmann (1834-1912), die damals neben der Familie Rothschild - wenn auch mit einigem Abstand - zu den reichsten Familien der Wiener jüdischen Gemeinde zählte.

 

Die Brüder Gutmann stammten aus  Leipnik in Mähren (Lipník nad Bečvou, Tschechische Republik) und kamen aus einer renommierten Familie, die zahlreiche Rabbiner zu ihren Vorfahren zählen konnte. Der Grossvater war Ende des 18. Jahrhunderts Vorstand der örtlichen Gemeinde gewesen und bereits der Vater Markus hatte es mit dem Handel von Schafwolle zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Früh verwaist waren die beiden Brüder auf sich allein gestellt. Der ältere Wilhelm, der sich ursprünglich den geistigen Studien widmen wollte, kam bereits um 1850 nach Wien, der jüngere David folgte ihm bald nach. Die Brüder begannen mit dem Zwischenhandel mit Kohle, die in diesen Jahren sukzessive zum wichtigsten Rohstoff wurde.  Neben der zunehmenden Bedeutung als Brennstoff für die Haushalte war Kohle vor allem wesentlich für die Dampfkraft, auf die Schiffe, Bahnen und Industrie angewiesen waren. 1856 gründeten sie die Firma Gebrüder Gutmann und pachteten Kohlegruben, die sich im Eigentum der Rothschilds befanden. Die enge Zusammenarbeit mit den Rothschilds führte in der Folge zu einem kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg der Brüder,  insbesondere auch durch ihre Beteiligung an der Kaiser Ferdinands-Nordbahn, die die wichtige Verbindung zu den in Schlesien liegenden Kohlebergwerken nach Wien herstellte. Diese ideale Kombination bescherte ihnen nahezu eine Monopolstellung, die sie zu den berühmten „Kohlebaronen“ machte. Mit einem sicheren geschäftlichen Instinkt beteiligten sie sich aber auch an Zuckerraffinerien, Leuchtgasunternehmen und vielen anderen mehr, so dass sich allmählich ein ganzes Industrieimperium in ihrem Besitz befand.

h124_25.jpg

Mädchenwaisenhaus in Wien- Döbling,  Ruthgasse 21. Foto: Prokop, mit freundlicher Genehmigung.

Ursprünglich, wie die meisten zugewanderten Juden, in der Leopoldstadt wohnend, wechselten sie ihrem Aufstieg entsprechend auch bald  ihren Wohnsitz in noblere Gegenden. Wilhelm liess sich um 1870 ein feudales Palais in der Innenstadt auf dem Beethovenplatz errichten. Sein Bruder David übersiedelte nur einige Jahre später in einen Prachtbau auf dem Schwarzenbergplatz. Die aufwändigen Stadtpalais beider Brüder wurden von prominenten Ringstrassenarchitekten entworfen und von führenden Künstlern im Inneren kostbar ausgestaltet.   Als Sammler und Förderer der Künste wurden ihre prachtvollen Wohnsitze zu Zentren der damaligen Kunstwelt. Für die Sommerfrische liessen sich die Brüder auch Villen in Baden bei Wien erbauen, wo sie später überwiegend wohnten. 2 Als sie 1879 aufgrund ihrer Verdienste in den Ritterstand erhoben wurden, erwarben sie ihrem neuen sozialen Status entsprechend auch aristokratische Ansitze. Wilhelm kaufte 1884 Schloss Jaidhof in Niederösterreich und David 1887 Schloss Tobitschau in Mähren (Tovačov, Tschechische Republik). Den damaligen Usancen entsprechend liessen die Brüder die alten Schlossanlagen von führenden Architekten renovieren, um sie zeitgemässen Ansprüchen entsprechend zu gestalten, wobei man allerdings darauf achtete, dass diese Adaptionen im jeweiligen „Stil“ zu erfolgen hatten. David Gutmann beauftragte daher für den Umbau des spätmittelalterlichen Schlosses Tobitschau den  Wiener Architekten Max Fleischer (1841 Prostějov, Mähren – 1905 Wien), der als Schüler Friedrich von Schmidts und Mitarbeiter am Wiener Rathaus als Spezialist für den „gotischen Stil“ galt. Darüber hinaus kannten sie einander von ihrer Tätigkeit in der israelitischen Kultusgemeinde, in der sich beide als fromme Juden engagierten. Offenbar hatte Fleischer den Umbau zur Zufriedenheit des Auftraggebers bewerkstelligt, denn als kurze Zeit später das Projekt eines Israelitischen Mädchenwaisenheimes anstand, das von den Brüdern Gutmann finanziert wurde, beauftragte man neuerlich Max Fleischer.

 

In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die Brüder Gutmann eine wichtige Rolle innerhalb der Kultusgemeinde ausübten3 und sich darüber hinaus äusserst philanthropisch engagierten. Die von ihnen im Sinne der jüdischen Zedaka (Wohltätigkeit, hebr.) geförderten und unterstützten karitativen Institutionen sind nahezu unüberschaubar. Insbesondere David war nicht nur Präsident der Baron Hirschmann-Stiftung, die sich für eine Verbesserung der Situation der Juden in Galizien engagierte, sondern durch seine zahlreichen Stiftungen auch Mitbegründer der Wiener Poliklinik, des Rudolfinerhauses in Döbling, der Lungenheilanstalt in Alland und von vielem anderen mehr, wobei er durchaus auch überkonfessionelle oder katholische Organisationen unterstützte. 4

 

In seiner Funktion als Präsident des israelitischen Waisenhauses engagierte sich David insbesondere auch in der Waisenfürsorge, die damals noch völlig in privater Hand lag. Gutmann, der seine Aufgabe sehr ernst nahm und diese Funktion nicht nur als Ehrenposten ansah, hatte von Anbeginn die Waisenfürsorge auf das Grosszügigste unterstützt. Bereits 1873, als anlässlich der Wiener Weltausstellung das Rothschild-Spital errichtet wurde und dadurch die Räumlichkeiten des alten Judenspitales in der Seegasse frei geworden waren, finanzierten die Brüder Gutmann mit 30.000 Gulden die Adaptierung des Baus für ein Mädchenwaisenheim, in dem rund 30 Kinder untergebracht werden konnten.5 Ende der achtziger Jahre war allerdings der Bedarf infolge des Wachstums der jüdischen Gemeinde erheblich angestiegen. Ein Ausbau schien wenig zweckmässig - wobei auch die ungünstige  Lage in einer eng verbauten Gegend eine Rolle gespielt haben könnte - und man entschloss sich zu einem Neubau, der weitgehend von den Brüdern Gutmann initiiert und finanziert wurde.6  1889 erwarb man um 20.0000 Gulden ein 6.500 m² grosses Areal in Unter-Döbling in der damaligen Feldgasse (heute Ruthgasse), dessen Lage in einer zu dieser Zeit noch grünen, weitgehend unverbauten Gegend ideal für ein Kinderheim schien, und beauftragte - wie bereits angeführt -  Max Fleischer mit der Planung. Noch im selben Jahr war Baubeginn. Da in der Zwischenzeit das Gebäude in der Seegasse nicht mehr zur Verfügung stand, mussten die Mädchen für drei Jahre provisorisch in einem Schulgebäude untergebracht werden.

 

Max Fleischer hatte den Bau vorerst für rund 50 Mädchen konzipiert, nahm aber darauf Bedacht, dass Anbauten an den Seitenflügel leicht zu bewerkstelligen wären, so dass man späterhin bis zu 100 Zöglinge aufnehmen könnte. Das zweistöckige Gebäude war damals  rundum freistehend mit der Hauptfront zur Strassenseite, während sich rückseitig eine grosse Gartenanlage befand. Die Raumeinteilung folgte einer einfach funktionellen Logik: Im Souterrain befanden sich die Wirtschaftsräume, im Erdgeschoss, das durch ein Vestibül in der Art einer gotischen Halle zu betreten war, der grosse Speisesaal und die Küche. Die Unterrichtsräume waren  im ersten und die beiden Mädchenschlafsäle mit anschliessenden Waschräumen für jeweils 25 Zöglinge  im zweiten Stock untergebracht, wobei die grosszügigen, hellen Säle und die damals neuesten technischen Einrichtungen grossen Eindruck machten. Insbesondere verfügte man über eine Gasbeleuchtung, dahingegen war Unter-Döbling noch nicht an die Hochquellwasserleitung angeschlossen, so dass man extra eine grosse Brunnenanlage mit Druckpumpe installieren musste.

 

In formaler Hinsicht orientierte sich der Bau in seiner romantisierenden Backsteingotik offensichtlich an englisch-viktorianischen Collegegebäuden, die damals als vorbildhaft galten und vermitteln sollten, dass auch die armen Kinder der jüdischen Gemeinde in einem stilvollen Ambiente aufwachsen konnten. Bereits im August 1891 konnten die ersten Mädchen einziehen, die feierliche Eröffnung unter Anteilnahme zahlreicher jüdischer Honoratioren und unter besonderer Würdigung der Verdienste der Brüder Gutmann fand allerdings erst am 27. Dezember statt.7 Das Waisenheim bewährte sich in der Folge für einige Jahrzehnte, unterlag aber späterhin wie alle jüdischen Einrichtungen in Wien einer wechselvollen Geschichte. Aufgrund finanzieller Probleme, die durch die inflationäre Entwertung des Stiftungsvermögens eingetreten waren,  musste das Heim 1936 geschlossen werden und wurde nur mehr als Sommertagesstätte für rund 400 Mädchen geführt.8 In der NS- Zeit wurde die Immobilie 1939 arisiert und Militär einquartiert. 1941 erwarb die Firma „Barwat“ die Liegenschaft und richtete hier eine Wäschefabrik ein. Nach Kriegsende 1945 diente das Gebäude schliesslich als Kaserne für die U.S.-Armee. Als die Liegenschaft 1953 an die Kultusgemeinde restituiert wurde, hatte hier vorübergehend eine Hebräische Schule ihren Sitz. 9 Zuletzt wurde nach dem Verkauf der Immobilie das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Gebäude im Inneren zur Gänze umgebaut und Luxuswohnungen eingerichtet, dabei wurde allerdings auch ein Grossteil der rückwärtigen Gartenanlage verbaut.

 

Die Brüder Gutmann erlebten den Niedergang des von ihnen so grosszügig finanzierten Waisenhauses glücklicherweise nicht mehr. Der ältere Bruder Wilhelm verstarb nur wenige Jahre nach der Errichtung 1895 und sein Bruder David liess ihm ein wunderschönes Mausoleum im gotischen Stil erbauen, das wiederum von dem von ihm so geschätzten Max Fleischer entworfen worden war. Auch in seinen letzten Jahren widmete David Gutmann sich weiterhin seiner karitativen Tätigkeit und finanzierte noch 1909 ein Knabenwaisenhaus, das gleichfalls in Döbling gelegen war. 10 Er verstarb schliesslich 1912 in seiner Villa in Baden. Neben seiner erfolgreichen Tätigkeit als Unternehmer wurden in allen Nachrufen seine persönliche Bescheidenheit und sein umfassendes karitatives Engagement hervorgehoben. Sogar die Arbeiter Zeitung, die in ihrer Kapitalismuskritik die Unternehmen der Brüder Gutmann oftmals angegriffen hatte, konnte nicht umhin, David Gutmann persönlich Respekt zu zollen und ihm zuzugestehen, dass er stets „die Verpflichtungen des Reichtums erfüllt“ hätte.11

h124_23.jpg

Grabmal Wilhelm Gutmann, Wiener Zentralfriedhof, alte israelitische Abteilung. Foto: Prokop, mit freundlicher Genehmigung.

 

Mit David Gutmann verstarb ein bedeutender Repräsentant des Wiener jüdischen Kulturlebens der vergangenen Jahrhundertwende.

 

 

1 Das Palais Wilhelm Gutmann wurde 1870 von Carl Tietz am Beethovenplatz 3 errichtet, während das Palais David Gutmann 1875 von der Ateliergemeinschaft Claus und Gross am Schwarzenbergplatz 11 geplant worden war  (die Repräsentationsräume wurden vom Ringstrassenmaler Hans Canon dekoriert). Derzeit ist das Gebäude eine Aussenstelle des Europäischen Gerichtshofes.

2 Die Villa von Wilhelm Gutmann wurde 1882 von Alexander Wielemanns in der Helenenstrasse 72 errichtet und ist etwas verändert erhalten. David wohnte in der Weilburgstrasse 16, die Villa wurde jedoch abgerissen.

3 Wilhelm Gutmann war kurzfristig 1891-92 Präsident der Kultusgemeinde.

4 Neues Wiener Journal 15.5.1912, Nachruf David Gutmann

5 Siehe dazu: Das israelitische Mädchenwaisenhaus im 19. Bezirk, in: Der Bautechniker 14. 1894, S.499ff

6 Das Gebäude in der Seegasse 9 - 11 wurde abgerissen und an dessen Stelle ein israelitisches Altersversorgungsheim neu errichtet, das bis 1938 existierte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Immobilie verkauft und an dieser Stelle ein Seniorenheim der Stadt Wien errichtet.

7 Die Neuzeit 1.1. 1892, S. 4

8 Niemals vergessen, Novemberpogrom 1938 (antifaschistischer Gedenkrundgang am 12.11.1917 im 19. Bezirk), Wien 2017, S.14

9 Shoshana Duizend Jensen, Geplündert, verbrannt, geräumt, demoliert, Beiheft Wr. Geschichtsblätter 2/2018

10 Max Fleischer war allerdings bereits verstorben, so dass Wilhelm Stiassny mit der Planung beauftragt wurde. Der Bau befand sich in der Probusgasse 2 und ist heute nicht mehr erhalten.

11Arbeiter Zeitung vom 15.5.1912, S. 3