Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Mit einem Vorwort von Dan Diner (=Toldot, Bd. 3). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.
245 Seiten, Euro 19,90.-
ISBN 978-3-525-35092-8
Durch eine Geschichte des Wissens, der Gedanken, des Zeitgeistes, der Begriffe und der Rezeption bringt Nicolas Berg mit seiner essayistischen Abhandlung über „Luftmenschen" seine innovative Version jüdischer Historiografie zu Papier.
In fünf Kapiteln beschreibt er den mehr als 100-jährigen Zeitraum von Entstehung und Wandel des Begriffes Luftmensch. Die ausführlichen Quellen- und Literaturhinweise sind thematisch geordnet und ermöglichen Interessierten einen hervorragenden Einstieg zur weiteren Vertiefung der beschriebenen Themenfelder.
Die Metapher des Luftmenschen balanciert mit und zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Das Begriffsfundament liegt in der jiddischen Literatur Osteuropas der 1860er und 1870er Jahre - als ironische Selbstcharakterisierung des „von Luft" lebenden Menschen ohne feste Arbeit. In den zwei folgenden Dekaden wurde der Luftmensch vor allem in Periodika aufgegriffen und erfuhr im Zuge dessen neue, insbesondere politisch geprägte Bedeutungen:
„Im Zeitalter der sich völkisch definierenden Nationalstaaten [...] wurde der jüdische Luftmensch vom Subjekt zum Objekt, vom ironisch kommentierenden Aktivum zum politisch ausgelieferten Passivum [...]." (S. 162).
Berg konzentriert sich im Laufe seiner Metapherngeschichte zunehmend auf die Verfolgungsgeschichte der europäischen Juden sowie die Geschichte des Antisemitismus, ohne dabei die zeitliche Abfolge ausser Acht zu lassen. Der Autor betont zu Beginn seines Buches: „Luftmensch hat eine jiddische Herkunft, eine deutschsprachige Geschichte und eine englische Gegenwart."(S. 19). Berg verdichtet seine Ausführungen auf Herkunft und Geschichte und lässt die (positivere) Gegenwart weitgehend aus.
Wie Berg zeigt, wurde der Begriff von verschiedenen Seiten und zahllosen Denkern aufgegriffen, weiterentwickelt, neu kontextualisiert ─ oder aber verzerrt. Leider lässt sich Berg dabei in weiten Teilen ausschliesslich auf die bekannten Namen der (jüdischen) Geistesgeschichte ein. So beschäftigt sich der Autor überwiegend mit dem Kanon der (jüdischen) Denker, lässt aber unbekanntere Gegenentwürfe oder auch weibliche Stimmen nur selten in seine Betrachtung einfliessen. Der Autor stellt das Nebeneinander von jüdischen und nichtjüdischen Begriffsdefinitionen des Luftmenschen dar. Er differenziert dabei zwischen positiven Identitätsentwürfen und antisemitischen Zuschreibungen. Auch die unterschiedlichen Konstrukte und Begriffsverständnisse der Metapher von west- bzw. osteuropäischen Juden finden berechtigterweise Eingang in Bergs Betrachtung.
Das Buch kann als Nachschlagewerk und Ideengeber für die in ihm behandelten Themenfelder dienen. Und nicht zuletzt ist es durch Bergs kenntnisreiche und wortgewandte Sprache schlichtweg ein Genuss, Luftmenschen zu lesen.