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Von der Unsterblichkeit der guten Tat

Ernst SMOLE

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Philosoph? Im Grunde war Mendelssohn das Gegenteil eines Philosophen, zumindest was formale Aspekte betrifft. Eine einfache Grundschulbildung ab dem vierten Lebensjahr im traditionellen Cheder, die er als positive und prägende Erfahrung erlebte,  Privatunterricht, kein Besuch eines Gymnasiums, kein offizielles Studium, kein akademischer Titel, aber intensives Lernen (Sprachen, Philosophie und - mit wenig Erfolg - das Cembalospiel), kein Lehramt - weder an einer Universität noch an einem Gymnasium, was das Mindestaufnahme-Erfordernis in die gelehrten Kreise im Berlin des 18. Jahrhunderts darstellte.

Zeit seines Lebens übte Mendelssohn bürgerliche Berufe aus, zunächst als Buchhalter einer Berliner Seidenmanufaktur, dann als deren Geschäftsführer und Eigentümer. Vor einigen Jahren fand in Salzburg ein Symposium unter dem Titel Die Genialität des Nichtprofessionellen statt, das sich mit Leben und Wirken bedeutender Persönlichkeiten befasste, die Geistesleistungen auf  unterschiedlichsten Gebieten erbracht haben, ohne dazu formal „berechtigt" gewesen zu sein. Als Grund für dieses Phänomen wird die „Aussensicht" vermutet, über die in der Regel nur Menschen verfügen, die sich nicht ausschliesslich mit einer einzigen Materie auseinandersetzen.1 Dies trifft in gewisser Weise auch auf Moses Mendelssohn zu.

Moses Mendelssohn machte es allen schwer: sich selber, seinen Freunden, seinen Feinden. Mendelssohn entzieht sich bis heute allen Kategorisierungs- und Vereinnahmungsversuchen. Er, der von der Vereinbarkeit von ratio und Religion überzeugt war - in Phädon, oder von der Unsterblichkeit der Seele versucht er, Religion mittels der Vernunft zu begründen - pflegte eine Form der aufgeklärten Toleranz, die sich von der heutigen Bedeutung des Begriffes (Gleichgültigkeit aus Bequemlichkeit) fundamental unterscheidet: Mendelssohn war ein glühender Disputant, der aber nicht versuchte, dem Kontrahenten seine Position aufzuzwingen. Vielmehr lag ihm daran, die Gründe für die Haltung seines Gegenübers zu erfahren, um die Position des Anderen zu verstehen und selbst dadurch zu lernen. Und - dies ist das Einzigartige - unüberbrückbare Differenzen waren für ihn niemals ein Grund, Freundschaften aufzukündigen, Kontakte abzubrechen. Mendelssohn war ein Leben lang an zumindest 2 Fronten tätig - das Wort „kämpfen" wäre wohl zulässig, würde Mendelssohn aber nicht gerecht, da er sich als erklärter Pazifist verstand.2 Einerseits hatte er in seinem Bestreben um Emanzipation des Judentums im Sinne der Aufklärung nahezu die gesamte säkulare und religiöse (d.h. christliche) nichtjüdische Welt gegen sich, und kaum weniger diffizil waren die innerjüdischen Konflikte mit dem etablierten Judentum.

Mit seiner Überzeugung, dass auch jeder konfessionsungebundene Mensch bei Einhaltung der sieben noachidischen Gesetze3 ein Zaddik4 sei, brachte er sowohl seine konservativen Glaubensbrüder als auch die Christen gegen sich auf, die das Paradies nur getauften Christen zubilligen5.

Gleiches geschah beim sogenannten Begräbnisstreit: das Bekanntwerden mehrerer Fälle, in denen Scheintote begraben worden waren, führten zu einer Anordnung im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin, nach der eine Beerdigung erst nach dem Ablauf von drei Tagen gestattet wurde. Dies war ein tiefer Eingriff in den jüdischen Begräbnisritus, der zwingend die Beerdigung innerhalb von 24 Stunden nach Eintritt des Todes vorsieht6. In einem Balanceakt von beispiellosem Einfühlungsvermögen und ebensolcher Kreativität suchte und fand Mendelssohn einen Kompromiss, der einerseits auf die jüdische Tradition, andererseits aber auch auf moderne medizinische Erkenntnisse rekurrierte und der sich nach und nach in der Praxis durchsetzte, obwohl die Begräbnisfrage bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im gesamten deutschen Sprachraum aktuell blieb.

Mendelssohns Übersetzung der 5 Bücher Moses ins Hochdeutsche verstörte ebenfalls sowohl Christen als auch Juden: erstere unterstellten Mendelssohn, sich auf unzulässige Weise in Konkurrenz zu vorhandenen Bibelübersetzungen, wie etwa zu jener Luthers, setzen zu wollen, für traditionstreue Juden war es ein Sakrileg, die Thora in einer anderen Sprache als auf Hebräisch zu schreiben und zu lesen. Mendelssohn positionierte seine Bibelübersetzung nicht als religiöses Projekt, sondern als Bildungsinitiative, und umging so erfolgreich die Verpflichtung, sein Werk dem Rabbinat zur Erteilung der Druckerlaubnis vorzulegen, die er vermutlich niemals erhalten hätte. Bis dahin wurde der Text der Thora zwar auf Hebräisch gelesen, von den meisten Menschen aber nicht verstanden7. Nun erschloss sich der Text der Thora breiten jüdischen Bevölkerungsschichten. Erstmals wurde die hebräische Schrift nicht nur für die hebräische und jiddische, sondern auch für die deutsche Sprache verwendet8.

Bereits in jungen Jahren hatte sich Mendelssohn den Ruf einer Autorität von europäischem Rang erworben - seine Wahl in die Preussische Akademie der Wissenschaften als erster Jude überhaupt bestätigte dies. Mendelssohn wurde zum meist erfolgreichen Nothelfer für bedrohte jüdische Gemeinden in halb Europa. Auch jenen jüdischen Kontrahenten, die ihn übel beflegelt und als Kryptochristen bezeichnet hatten, verweigerte er niemals seine Unterstützung.

Tatsächlich hing Mendelssohn Visionen nach, die sich zweihundert Jahre später auf grässliche Weise als unrichtig herausstellen sollten: wie viele Vertreter der Aufklärung vertrat er die Ansicht, dass Vernunft, Bildung und Erziehung den besseren Menschen, die bessere Welt und Freiheit für alle schaffen würden. Mendelssohn war trotz aller Rückschläge Optimist. Dass das grösste Verbrechen der Menschheit 200 Jahre später von Deutschen begangen werden würde, ahnte Mendelssohn nicht.

Das Judentum ist nicht eine Religion primär des Glaubens9, sondern eine der guten Taten. Diese Haltung lebte Moses Mendelssohn kompromisslos. Der Philosoph Mendelssohn dachte, der Autor Mendelssohn argumentierte und formulierte, und der Mensch Mendelssohn handelte zum Nutzen Bedrängter, Unterdrückter, Bedrohter - er war ein Mann der guten Taten. Ob die Seele tatsächlich unsterblich ist, wie Mendelssohn zu beweisen suchte, wissen wir nicht. In jedem Fall unsterblich sind gute Taten.

Wie aktuell ist Moses Mendelssohn heute? Er ist ein zeitloses Idol in Bezug auf  tätige Nächstenliebe, echte Toleranz, die Synthese von Rationalität und Emotionalität, für hochprofessionelles Konfliktmanagement, für das Entwickeln von Kompromissen, die niemals „faul" waren, sondern allen Beteiligten einen Mehrwert brachten. Eines konnte Moses Mendelssohn allerdings nicht: über etwas Bedeutendes NICHT nachzudenken.

1   Dem deutschen Komponisten Hanns Eisler wird das Zitat zugeschrieben: „Wer ausschliesslich von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts". Diese Sicht ist durchaus auch auf die Geistes- und Naturwissenschaften anwendbar.

2     Dies dokumentieren zahlreiche Äusserungen Mendelssohns über den Siebenjährigen Krieges (1756 - 1763), so auch die von ihm verfasste „Friedenspredigt" anlässlich des Endes dieses militärischen Konfliktes.

3   Diese Regeln hatte Noa der Überlieferung nach mit Gott vereinbart, um die Wiederholung der Sintflut zu verhindern: Verbot von Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Unzucht, Brutalität gegen Tiere, Gotteslästerung, sowie die Etablierung von Gerichten, um den zitierten Rechtsgrundsätzen zur Wirksamkeit zu verhelfen.

4  „Gerechter" (hebr.) - er ist vor Gott mit gläubigen praktizierenden Juden  gleichrangig.

5    Diese Haltung war im Judentum immer zumindest latent vorhanden und ist vermutlich einer der Gründe, warum das Judentum nicht missioniert: man kann - kraft einer gottgefälligen praktischen Lebensführung - auch in den Himmel kommen, ohne einer bestimmten Religion anzugehören. Aus dieser Tradition entstand auch der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern". Er wird konfessionsungebunden an Persönlichkeiten verliehen, die während der NS-Zeit unter Lebensgefahr Juden oder auch Nichtjuden gerettet haben.

6   Dieses Gesetz beruht historisch betrachtet mit grosser Sicherheit auf hygienebezogenen Überlegungen.

7       Ebenso verhielt es sich mit dem Gebrauch der lateinischen Sprache in der katholischen Liturgie bis in die 1960er Jahre.

8   Der in hebräischen Lettern (Quadratschrift) verfasste Text weist aus heutiger Sicht einige Besonderheiten auf. Mendelssohn verwendet zwar vorwiegend deutsche Wörter - etwa „Anfang" anstatt des jiddischen „anhejb", es findet sich jedoch in 1(2) das typisch jiddische „euf" statt des deutschen „auf". Das „o" in „Gott" in 1(1) ist ein Alef ohne die übliche Vokalisierung (chamez chatuv), der aber auch für ein reines A steht. Moses Mendelssohn sprach mit seinen Angehörigen mit grosser Wahrscheinlichkeit ein vermutlich mehr oder weniger  hochdeutsch beeinflusstes Jiddisch. Einzelne „optische" Jiddismen im Text des „Bi'ur" entspringen vermutlich der Sprachpraxis Mendelssohns (etwa häufige Alef als Anlaut), könnten aber auch bewusst gesetzt sein, um ein aus dem Jiddischen vertrautes Schriftbild zu schaffen und um so Zugangs- und Akzeptanzhürden abzubauen.

9    Man beachte etwa die Themen der Auseinandersetzungen innerhalb des Christentums: die dogmengebundenen Glaubensinhalte (Dreifaltigkeit, Jungfrauengeburt, Unfehlbarkeit des Papstes etc.) sind im Vergleich zu Judentum und Islam extrem komplex und fordern ihre Angehörigen weit mehr, als dies bei den beiden anderen monotheistischen Religionen der Fall ist.