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„Hast Du meine Alpen gesehen?“ – Eine jüdische Beziehungsgeschichte

Hanno LOEWY

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Das Jüdische Museum Hohenems und das Jüdische Museum Wien laden zu einer Neuentdeckung der Geschichte des Alpinismus ein. Die Ausstellung „Hast Du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte" rückt die Bedeutung jüdischer Bergsteiger und Künstler, Tourismuspioniere und Intellektueller, Forscher, Mediziner und Sammler und ihre Rolle bei der Entdeckung der Alpen als universelles Kultur- und Naturerbe zum ersten Mal ins Rampenlicht.

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Orthodoxer Tourist in Davos, 2008.
Foto: Michael Melcer und Patricia Schon

Die Wahrnehmung der Berge als Ort geistiger und sinnlicher Erfahrung ist mit der jüdischen Erfahrung und dem Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft Europas auf vielfältige Weise verbunden. Seit Moses, dem „ersten" Bergsteiger der Geschichte, haben Juden an der Schwelle von Himmel und Erde, von Natur und Geist nach spirituellen Erfahrungen und den Gesetzen und Grenzen der Vernunft gesucht. So imaginiert die jüdische Tradition Vernunft von jeher als jene Berührung an der Grenze von Irdischem und Göttlichem: Eben auf den Gipfeln der Berge, wo - wie Béla Balázs geschrieben hat - die Kreatur „die Grenzen ihrer als Heimat bestimmten Natur überschritten hat und Aug' in Aug' dem finstern Weltall gegenüber steht". Die Faszination, die von jener Überschreitung der Grenzen unserer Alltagswelt ausgeht, bringt viele Augen zum Leuchten. „Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ‚Hast Du meine Alpen gesehen?'" Das soll der Begründer der jüdischen Neoorthodoxie Samson Raphael Hirsch gesagt haben, als er in die Schweiz fuhr. „Hast Du meine Alpen gesehen?" stellt die Frage danach, was es mit diesen Bergen auf sich hat, wem sie gehören, wer sich von ihnen die Augen öffnen lässt, und wofür?

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Roger Reiss, Rabbiner-Collage

„Hast Du meine Alpen gesehen?" entführt auf eine Entdeckungsreise durch Zeiten und Räume, von Hohenems und Wien nach Graubünden und nach Savoyen, ins Salzkammergut und in die Krimmler Tauern, nach Südtirol und ins Wallis: Es ist eine Reise durch die Welten der Sommerfrische und des Alpinismus, der Erschließung der Berge für den internationalen Tourismus und der Erfindung des modernen Skisports, eine Reise zu den intellektuellen Kindheiten und erwachsenen Träumen jenseits der Städte, durch die ganze Geschichte des modernen mitteleuropäischen Antisemitismus und durch die Widersprüche von Assimilation und Migration, von Verfolgung und Neubesinnung in der Diaspora - Widersprüche, die von Männern und Frauen erlebt, erlitten und manchmal bewältigt wurden, die oft erst in diesen Widersprüchen ihr Jüdischsein erfuhren.

Die Alpen verstehen

Die Juden in den Städten ringsum den Alpenbogen, in Wien und Zürich, München und Mailand, Genf und Basel, bezogen sich seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auf das gewaltige Gebirgsmassiv. Und selbst im fernen Berlin regte sich ein jüdischer Alpinismus, eine jüdische Sehnsucht danach, an dieser Erfahrung teilzuhaben, sich im Besteigen und im Verstehen der Berge Europa, oder dem, was ein aufklärerischer Zeitgeist darunter verstand, oder eher: erhoffte, anzuverwandeln. Von Georg Simmels Physiognomie der Alpen bis zu Arnold Zweigs Kultur- und Demokratiegeschichte der europäischen „Erdkruste", von Béla Balázs' rauschhaften Feuilletons über Blumenwiesen in Arosa und seinen Hymnen auf den Bergfilm bis zu Stefan Zweigs Erschrecken über die sorglosen Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs in Schweizer Luxushotels reicht ein lange Kette literarischen und philosophischen Schreibens über die Alpen. Dort, wo sich bloße Natur in spirituelle Dimensionen erhebt, dort haben jüdische Intellektuelle von Sigmund Freud bis Theodor W. Adorno, von Peter Altenberg bis zu Vilém Flusser, von Walter Benjamin bis zu Viktor Frankl über die Welt anders nachgedacht als unten im Tal. Für andere war der Alpenverein der gesellschaftliche Ort, die Berge leibhaftig zu bewältigen, als bürgerliche Entdeckung der eigenen Natur genauso wie als geistige Erfahrung. Als 1875 der Hohenemser Alpenverein gegründet wurde, waren neun von elf Mitgliedern Juden. Und tausende von deutschen  und österreichischen Juden nahmen an der Bewegung des europäischen Alpinismus teil, der für sie Universalismus und Assimilation zugleich bedeutete.

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Kippa mit Edelweiss aus Tel Aviv.

Arische Alpen?

Zu den bekanntesten Bergsteigern und Alpinisten gehörten Juden wie Paul Preuss, der mit seinem Verzicht auf technische Hilfsmittel 1911 den legendären Mauerhakenstreit provoziert hatte, oder Gottfried Merzbacher, der nicht nur in den Alpen, sondern auch im Kaukasus Pionierarbeit leistete. Otto Margulies, der bei einem Absturz ein Bein verloren hatte und danach weiter mit Erstbesteigungen von sich reden machte, kämpfte damit auf spektakuläre Weise für das Ansehen Behinderter. Die Wiener Alpenvereinssektion Austria zählte schließlich fast 2.000 jüdische Mitglieder, ein Drittel der Gesamtzahl, als schon 1921 ein von der Mehrheit beschlossener Arierparagraph mit dem Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft ernst zu machen begann. Jüdische Alpinisten gaben nicht auf und gründeten, gemeinsam mit nicht-jüdischen Freunden, eine eigene Alpenvereinssektion, die Donauland. Doch 1924 wurde auch diese aus dem Alpenverein ausgestoßen. Zu diesem Zeitpunkt hatten schon 96 von 100 österreichischen Alpenvereinssektionen ihren eigenen Arierparagraphen eingeführt. Anfang der zwanziger Jahre hatten in Österreich antisemitische Aktivisten die „Arisierung" des Alpenvereins gesellschaftlich durchgesetzt, ohne dass ihnen Einhalt geboten worden wäre. Der Ausschluss der Juden war in einer der größten gesellschaftlichen Organisationen erfolgreich ausprobiert worden, lange bevor die Nationalsozialisten mit der „Endlösung der Judenfrage" begonnen hatten. Es dauerte lange, bis im deutschen, und noch länger, bis im österreichischen Alpenverein eine Auseinandersetzung mit dieser Geschichte möglich war. Heute erinnern am Friesenberghaus in den Zillertaler Alpen - das einst jenem Berliner Alpenverein gehörte, der aus Protest gegen den vereinsoffiziellen Antisemitismus aus dem Alpenverein austrat und seine Hütte 1933 dem Alpenverein Donauland überschrieb - eine Gedenktafel und eine Ausstellung an den Rassenfanatismus im Alpenverein und an das Schicksal seiner jüdischen Mitglieder. Im Österreichischen Skiverband steht solch eine Auseinandersetzung noch an - hatte doch auch der ÖSV in den Zwanziger Jahren seine jüdischen Mitglieder ausgeschlossen, nicht zuletzt seinen frühen Vorsitzenden Rudolf Gomperz, der mit dem legendären Ski-Idol Hannes Schneider zusammen am Arlberg den modernen Skitourismus und Skisport begründet hatte.

Die Alpen bürgerlich erleben

Lange zuvor schon waren die Berge touristisch, und das hieß zunächst einmal: dem bürgerlichen Leben und Erleben erschlossen worden. Seite Mitte des 19. Jahrhunderts hatten insbesondere Briten die alpine Bergwelt zum Erholungsraum gemacht, zum Ort erhabener Gefühle in sicherer Gediegenheit. Auch jüdische Hoteliers und Hotelgäste gehörten bald zu den Pionieren der alpinen Touristik - von nichtjüdischen Hoteliers zuweilen misstrauisch beäugt. „Gute Klienten - aber Juden", kann man im heimlichen „Gästebuch" des St. Moritzer Palace Hotels nachlesen, in dem das Hotelmanagement seine Kommentare zu den Gästen festhielt. Westlich von Wien hingegen wurden die Berge rund um den Semmering und im Salzkammergut zur jüdischen Sommerfrische, zum selbstverständlichen Bestandteil großbürgerlichen Lebens und bürgerlicher Salons, in denen das Kulturleben Wiens durchatmete und seine Kreativität erneuerte, von Arthur Schnitzler bis Robert Musil, von Genia Schwarzwald bis Stefan Zweig, von Gustav Mahler bis Peter Altenberg. Die jüdische Liebe zu den Bergen war vielen suspekt:„Juden und Natur", das vertrage sich wohl kaum. In antisemitischen Karikaturen wurde der jüdische Alpinismus verhöhnt, doch auch manchem jüdischen Intellektuellen war die Begeisterung für das ästhetisierte Naturerleben verdächtig.

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Heinrich Rosenbaum in einem Münchner Fotoatelier

Über die Alpen streiten

Ernst Lubitschs Stummfilm Meyer aus Berlin nimmt die alpinen Gehversuche von (jüdischen) Großstädtern mit freundlichem Humor aufs Korn. Siegfried Kracauer streitet sich Ende der Zwanziger Jahre mit Béla Balázs in aller Heftigkeit über den „Bergfilm", jenes Genre, das deutsche Filmschaffende dem amerikanischen Western entgegensetzen wollten und zu dem nicht nur Balázs, sondern auch andere jüdische Autoren, Komponisten und Filmproduzenten nach Kräften beitrugen. Die Sehnsucht nach Teilhabe war stärker als manches „vernünftige" Argument. Auch Jean Améry, mit Hohenemser Wurzeln aufgewachsen im Salzkammergut, arbeitete sich sein Leben lang an den Widersprüchen ab: zwischen dem Verlangen nach „Heimat" und der Erfahrung der radikalsten Heimatlosigkeit, die für ihn Auschwitz bedeutete. Alle Teilhabe und alle Verdienste, alle Sehnsüchte und alle Liebe halfen schließlich nichts, als die Nationalsozialisten „die Juden" als Geschöpfe „wider die Natur" vom Erdball verbannen und vernichten wollten. Der Alpenverein war eine Vorhut für das, was folgte. Und der Schweizer Alpenclub SAC in der sicheren Schweiz sah dabei genauso zu wie andere. Nach dem März 1938 wurde Juden im Salzburger Land das Tragen von Trachten verboten. Was bedeutete es da noch, dass es Sammler wie Konrad Mautner oder jüdische Textilfabrikanten wie die Familie Wallach in München waren, die das Dirndl oder die edelweißgeschmückte Lederhose überhaupt erst salonfähig gemacht hatten. Genau das wurde ihnen ja jetzt zum Vorwurf gemacht. Wallach half selbst seine deutsch-nationale Haltung nichts mehr. Auch die Juden in den deutsch-österreichisch-italienischen Alpen, ob in Hohenems oder in Meran, wurden schließlich deportiert. So wie Eugenie Goldstern aus Wien, die als Volkskundlerin mit einer universalistischen Perspektive die Alltagsästhetik im Alpenraum in ihren Pionierarbeiten untersucht hatte und die bedeutendste Sammlung alpenländischer Volkskunst dem Volkskundemuseum in Wien überlassen hatte - und zum Dank dafür aus der zunehmend antisemitischen Zunft ausgegrenzt worden war. Lilli Baitz hingegen, die in Salzburg, Berlin und Aussee erfolgreich Trachtenpuppen hergestellt hatte, nahm sich vor ihrer Deportation 1942 das Leben.

Über die Alpen fliehen

Zur gleichen Zeit wurden die Alpen zu einem Raum ganz anderer Erfahrungen. Nicht alpinistische Erlebnisse prägten die Jahre zwischen 1938 und 1945, sondern Flucht und Vernichtung. Die Berge wurden zu einem Gelände, das Fluchtmöglichkeiten mit physischen Herausforderungen verband. Die österreichisch-schweizerische Grenze, wie auch die Grenze zwischen Vichy-Frankreich und der Schweiz, wurde zum Versprechen auf Rettung, kontrolliert von Schweizer Grenzwächtern, die das angeblich schon volle Boot bewachten und seit 1938 in immer rigiderer Weise unzählige Menschen in die Arme der Nationalsozialisten zurücktrieben. Trotzdem gelang vielen die Flucht, zum Teil dank Schweizer Helfern. Ab Kriegsbeginn 1939 entstanden in den Alpen vermehrt Lager des NS-Regimes, hauptsächlich Außenstellen des Konzentrationslagers Mauthausen, in denen Kriegsgefangene und auch Juden zur Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen eingesetzt wurden. Das Lager Ebensee nahe dem vormaligen Sommerfrischeparadies Ausseerland wurde für die Insassen, darunter zahlreiche Juden, zur wahren Hölle. Auch nach 1945 blieben die Alpen ein Fluchtgelände. Nun waren es die Überlebenden der Lager und jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa, die über die Bergpässe zu den Mittelmeerhäfen gelangen wollten, viele von ihnen auf den Wegen der Bricha (der illegalen jüdischen Einwanderungsorganisation) nach Palästina. Camps für Displaced Persons entstanden, so in Hohenems und Gnadenwald, rund um Salzburg und in Bad Ischl, in Saalfelden oder in Admont. In Meran und in Davos wurden jüdische Flüchtlinge versorgt, freilich auch in der Hoffnung, sie bald weiter auf die Reise schicken zu können.

Doch die Faszination der Berge blieb bestehen. Schon seit dem Beginn der 20. Jahrhunderts hatte es orthodoxe Juden aus den Städten Mitteleuropas, in die Bergwelt vor allem Graubündens gezogen. Heute kommen sie aus aller Welt. Das älteste koschere Hotel in den Bergen, das Edelweiss in St. Moritz, öffnete schon 1886 seine Pforten für die jüdischen Touristen aus ganz Europa. Und in Meran und Davos warteten damals schon jüdische Sanatorien auf Gäste, auch wieder nach 1945, als es Überlebende der Shoah waren, die hier in eine Art Normalität, jedenfalls ins Leben zurückzukehren hofften - und von denen viele, gezeichnet vom Lager, noch in den Kurorten in den Bergen starben.

Über den Alpen - der Himmel

Noch heute halten chassidische Rabbiner Hof in Davos, St. Moritz oder Arosa, bietet der höchstgelegene jüdische Friedhof Europas in Davos eine letzte Ruhestätte für Juden, denen die Bergwelt und die Nähe zum Himmel ein alternatives Zion war und ist, ein Refugium spiritueller Konzentration in einer Gegenwart, die sie durch den jüdischen Staat im Nahen Osten noch keineswegs erlöst sehen. So begegnet man heute in den Bergen auch einer traditionell-konservativen jüdischen Welt mit einer vollständigen Infrastruktur, von der Challoth-Bäckerei bis zur Synagoge, von der Mikwe und der koscheren Küche bis zum Friedhof. „Die Alpen sind nicht mehr der ‚Spielplatz von Europa', sondern ein soldatisches Übungsfeld, die grandiose Schaubühne der Natur keine ‚moralische‘, sondern eine militärische Anstalt", schrieb Josef Braunstein, der Wiener Alpinist und Musiker, 1936, kurz vor seiner Emigration in die USA. Und er hatte dabei nicht nur die „Schlacht" um die Eiger-Nordwand vor Augen.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung Jüdisches Museum Hohenems.