Den Titel ihres Manuskriptes Die Geschichte einer Freundschaft hatte Lotte Cohn1 vermutlich von ihrem langjährigen Freund, dem Kabbala-Forscher Gershom Scholem übernommen.2 Der Religionshistoriker hatte 1975 sein gleichnamiges Buch veröffentlicht, in dem er seine Erinnerungen an Walter Benjamin niedergeschrieben hatte.3 Die Freundschaft beider Männer hatte 1915 in Berlin ihren Anfang genommen und seit Scholems Auswanderung nach Palästina 1923, neben zwei späteren Zusammentreffen (1927/1938), vor allem in einem ausgedehnten Briefwechsel ihren Widerhall gefunden. Sie endete 1940 mit Benjamins Freitod im spanischen Port Bou. Auch im Falle der Freundschaft zwischen Lotte Cohn und ihrer ehemaligen Studienkollegin Gertrud Ferchland sind die zionistische Begeisterung der einen, die zur Auswanderung nach Palästina führte, und der jahrelange vertraute Briefwechsel zentrale Momente ihrer Beziehung. Auch der spätere Selbstmord der Freundin während des Zweiten Weltkrieges weist deutliche Parallelen zur Scholem-Benjamin-Geschichte auf. Dennoch, die Freundschaft beider Frauen - einer Jüdin und einer Deutschen - endete nicht mit dem Tod Ferchlands, sondern schon einige Jahre früher mit einem letzten „Leb wohl, Lotte" in einem Brief nach Palästina 1935.
Yehuda Hamakkabi Street, Tel Aviv, 1950er Jahre. Foto: Pri Or mit freundlicher Genehmigung I. Sonder.
Lotte Cohns Manuskript Die Geschichte einer Freundschaft, das sie angesichts von rund 200 Briefen Gertrud Ferchlands aus den Jahren 1914 bis 1935 zu schreiben begann, ist fragmentarisch. Es endet abrupt nach gerade sechs Schreibmaschinenseiten und enthält dem Leser vor allem jenen wichtigen Zeitabschnitt ihrer Beziehung vor, der schliesslich zur Trennung führte. Ob das Manuskript je zu Ende geschrieben wurde, oder ob der Rest verloren gegangen ist, lässt sich nicht sagen. Und auch die Briefe selbst sind nicht erhalten, mit Ausnahme der Abschrift einer Postkarte aus Waldhausen bei Tübingen, datiert auf den 27. April 1914, mit der noch etwas förmlichen Anrede „Liebes Fräulein Cohn". Dennoch lässt sich die Geschichte der Freundschaft dieser beiden Frauen, die durch den Nationalsozialismus auseinanderbrach, aus Erinnerungen und Briefpassagen Lotte Cohns in Umrissen skizzieren. Es sind zudem die Lebensgeschichten zweier Pionierinnen der Architektur am Beginn des 20. Jahrhunderts, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
„Die Geschichte, die ich erzählen will, ist eine alltägliche: zwei junge Mädchen treffen sich in der gemeinsamen Studienzeit, sie schliessen Freundschaft, die durch lange Jahre für beide eine grosse Bereicherung bedeutet. Das ist nichts Besonderes, wer hätte es nicht erlebt, dies innige und ernsthafte Sich-Zusammen-Finden, sich aussprechen und aneinander wachsen. [...] Das Besondere bei uns [...] war, dass wir sehr verschiedenen waren: meine Freundin war eine Deutsche mit stark ausgeprägten Rassebewusstsein und ich bin eine Jüdin, gleicherweise meiner Rassezugehörigkeit stolz bewusst. Wir haben uns nicht hinter dieser Verschiedenheit versteckt. Jeder für sich fühlte seine Verwurzelung in der eigenen Art so stark, dass kein Versteckspiel möglich gewesen wäre [...]."4
Lotte Cohn, die am 20. August 1893 in einer zionistisch gesinnten jüdischen Grossfamilie in Berlin-Charlottenburg geboren worden war, hatte sich im April 1912 an der TH Charlottenburg immatrikuliert. Seit dem ministeriellen Erlass von 1909, der den Zugang von Frauen an den Technischen Hochschulen in Preussen regelte, war sie gerade die vierte ordentliche Studentin nach Elisabeth von Knobelsdorff und ihren beiden Studienkolleginnen Margarete Wettcke und Marie Frommer. Die am 30. Mai 1894 in Zürich (Sachsen) geborene Gertrud Ferchland, wohnhaft in Hellerau bei Dresden, hatte sich im April 1913 in Charlottenburg im Architekturfach immatrikuliert.
„Es war eine besondere Atmosphäre in unsere Clique, ein paar Jungens und hauptsäch-lich wir drei, die beiden Truden und ich.", erinnerte sich Lotte Cohn an ihre ersten Studiensemester vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren beiden Studienkolleginnen Gertrud (Trude) Ferchland und Gertrud (Trude) Sachs, die sich im Oktober 1913 an der Hochschule immatrikuliert hatte. „Sie hatte schon etwas von dem undefinierbaren Charme, der in jedem Architekturstudio herrscht oder herrschen soll. [...] man arbeitete mit tiefstem Ernst, kämpfte gemeinsam um künstlerische Ideen und genoss gemeinsam die Schaffensfreude, die aus schöpferischer fliesst [...]."5
Von den vier Studienkolleginnen war es Gertrud Ferchland, mit der Lotte Cohn Freundschaft schloss: „in einem weit innigeren Sinne, als es jene herzliche Kameradschaft war, die mich mit den anderen verband". Von ihrer äusseren Erscheinung her sei die Freundin „beinahe farblos" und „unhübsch" gewesen; kaum mittelgross sei sie von „zarter Blutlosigkeit" gewesen. „Nur ein sehr starker Blick beherrschte ihre Erscheinung, die sonst unscheinbar gewesen wäre." Charakterlich sei Ferchland
„eine ungewöhnliche Frau [gewesen], klug, nachdenklich, empfindsam. Ihr Wesen war sehr natürlich und einfach, nur zuweilen liess [sie] den Zuhörer Einblick in ihre Tiefe tun, nichts an ihr war oberflächlich. Sie besass ein reizvolles Erzähltalent [...] von ganz originellem Humor."6
Von allen Menschen in jenen Jahren sei sie derjenige gewesen, der ihre Entwicklung am stärksten beeinflusst habe, ausgenommen ihr zionistisches Elternhaus, betont Cohn auch in ihren Lebenserinnerungen. Grundlage ihrer Beziehung war, „dass wir den Unterschied: Deutsche - Jüdin in voller Deutlichkeit aufrecht erhielten, und oft zum Gegenstand unserer Unterhaltung machten."7 Beeindruckend an der Freundin sei die beinahe vollkommene Sicherheit gewesen, mit der sie sich ihr eigenes Urteil bildete. Sie ging nicht ohne weiteres mit dem „Zug der Zeit".
Auch nach den gemeinsamen Studienjahren in Charlottenburg, die ihre Zäsur im Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten, blieben die beiden Frauen privat und beruflich verbunden. Während Lotte Cohn im Dezember 1916 ihre Diplom-Prüfung als dritte Frau im Architekturfach in Charlottenburg ablegte, unterbrach Gertrud Ferchland zunächst ihr Studium. Berufliche Herausforderungen fanden die jungen Architekturstudentinnen und -absolventinnen in diesen Jahren vor allem in der vom Krieg zerstörten Provinz Ostpreussen. Anfang 1918 trafen sich die beiden Frauen in Gumbinnen wieder, nachdem Lotte Cohn zunächst in Pillkallen und Tilsit in Wiederaufbaubüros gearbeitet hatte. Auch ihre Studienkolleginnen Margarete Wettcke arbeitete hier im Büro der Kreisbauberatungsstelle. Über ihre Tätigkeit in Ostpreussen berichtete Gertrud Ferchland in ihrem Artikel Der ländliche Wiederaufbau Ostpreussens in der Deutschen Bauhütte im März 1920.8 Lotte Cohn hatte ihre Stellung in Gumbinnen bereits Ende April 1919 aufgegeben, da man innerhalb der deutschen Zionisten die Zeit für gekommen hielt, intensivere Beziehungen nach Palästina zu knüpfen, wenn man beabsichtige, dorthin auszuwandern. In Berlin fand sie zunächst eine Anstellung im Büro des zionistisch gesinnten Architekten Richard Michel. Da sich die Hoffnungen auf eine baldige Auswanderung jedoch vorerst nicht erfüllten, bemühte sich Gertrud Ferchland von Gumbinnen aus, für ihre Freundin eine erneute Anstellung in Ostpreussen zu finden,9 offenbar erfolglos. Von Herbst bis Ende 1920 fand Lotte Cohn eine Anstellung bei der Palestine Oil Industry „Shemen" Ltd. in Berlin. Schliesslich erhielt sie Ende Juli 1921 das Angebot, als Erste Assistentin des Architekten Richard Kauffmann im Büro der Palestine Land Development Company (PLDC) in Jerusalem zu arbeiten. Einen Monat später verliess sie Deutschland und wanderte als erste graduierte Architektin in Palästina ein. Hier entstand ihr architektonisches Oeuvre.10 Gertrud Ferchland, die nach Aussage Lotte Cohns keine „produktiv begabte" Architektin gewesen sein soll, hatte noch während des Krieges im März 1917 ihr Diplom in Charlottenburg erworben und kehrte Anfang der Zwanziger Jahre nach Dresden zurück. Vermutlich aus Mangel an geeigneten Arbeitsmöglich-keiten absolvierte sie vom Herbstsemester 1923 an bis 1925 an der Allgemeinen Abteilung der TH Dresden ein weiteres Studium im Fach Hochbau, wo sie im Dezember 1925 erneut ein Diplom erwarb. Anschliessend war sie als Assistentin an der Kulturwissenschaftlichen Abteilung tätig und wurde 1930 zur ersten planmässigen Dozentin am Pädagogischen Institut dieser Abteilung berufen.11 Selbständige Arbeiten als Architektin sind bislang nicht nachgewiesen.
Lotte Cohn und Gertrud Ferchland blieben auch nach ihrer örtlichen Trennung im Kontakt. Erstmals sahen sich die Frauen im Frühsommer 1923 wieder, als Lotte Cohn das erste Mal seit ihrer Auswanderung wieder Deutschland besuchte. Gemeinsam schauten sie in Berlin im Büro von Erich Mendelsohn vorbei, den Lotte Cohn im Frühjahr in Palästina persönlich kennen gelernt hatte und der gerade an den Entwürfen für die Sommerfeld-Gartenstadt12 auf dem Berg Karmel bei Haifa sass. Auch vier Jahre später, bei Cohns zweitem Deutschlandaufenthalt, gehörte ein Besuch bei Mendelsohn zum Programm der Freundinnen. Für die 33-jährige Lotte Cohn, die im Jahr zuvor ihren deutschen Pass zurückgegeben hatte und nun „Palästinenserin" war, war dieser zweite Aufenthalt von emotionalen Schwankungen geprägt. An Richard Kauffmann in Jerusalem schrieb sie:
„Es ist natürlich schön, mal wieder alle und alles wiederzusehen, wenngleich ein bischen schmerzlich diesmal. Alles ist so sehr anders und die Menschen, auch ich, recht verändert, das macht das Wiedersehen in gewissem Sinne schwierig. Aber gut ist doch, dass die wirklichen Freunde sich nie verändern: ich habe so wunderschöne Tage mit der Trude Ferchland in Dresden gehabt."13
Lotte Cohns Freundschaft mit Gertrud Ferchland hielt 20 Jahre und überbrückte ab ihrer Auswanderung nach Palästina zehn Jahre örtlicher Trennung. Dann brach eine Zeit an, von der sich auch die Freundin stark angezogen fühlte:
„Das Gift, das die dreis-siger Jahre ausgesät hat, hat auch meine Freundin infiziert, die Mauer, die zwischen uns aufgerichtet wurde, war unübersteigbar."14
Gertrud Ferchland bekannte sich bewusst zum Nationalsozialismus. 1935 in Tel Aviv erhielt Lotte Cohn einen letzten Brief, der mit einem „Leb wohl, Lotte" endete. Bis ins hohe Alter konnte sie diesen tiefen Schmerz über das traurige Ende nicht verwinden. Im Alter von 86 Jahren schrieb sie an ihren Bekannten, den Architekturhistoriker Julius Posener in Berlin:
„Ich habe nicht mehr darauf geantwortet, es ging nicht mehr. Sie hat sich, ich weiss nicht warum und ich weiss nicht warum, das Leben genommen. Ob ihr im Lauf der Hitler-Jahre die Augen aufgegangen sind oder ob sie hoffnungslos krank war, habe ich nicht erfahren. Als ich 1954 ein letztes Mal in Berlin war, habe ich ihre halbjüdische Cousine aufgesucht - aber sie konnte mir keine Auskunft geben - ich hatte den Eindruck, die beiden Cousinen sind durch dies Halbjude-Sein der einen ganz auseinandergekommen. Jedenfalls wusste sie gar nichts von meiner Freundin. - Du lieber Gott, was hat Hitler, abgesehen von 6 Millionen Juden, alles zerschlagen."15
1 Vgl. Ines Sonder: Lotte Cohn. Pionierin der israelischen Architektur. In: DAVID, Heft 78, 2008.
2 Zur Freundschaft zwischen Lotte Cohn und Gershom Scholem, vgl. Ines Sonder: Lotte Cohn - Baumeisterin des Landes Israel. Eine Biographie, Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2009.
3 Gershom Scholem: Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975.
4 Lotte Cohn: Die Geschichte einer Freundschaft, S. 1 [Centrum Judaicum Archiv, Berlin, CJA, 6.12/1, Nr. 2].
5 Ebenda, S. 6.
6 Ebenda, S. 2.
7 Lotte Cohn: Lebenserinnerungen, Heft 1, S. 69, CJA 6.12/1, Nr. 3.
8 Gertrud Ferchland: Der ländliche Wiederaufbau Ostpreussens, in: Deutsche Bauhütte (10. März 1920), S. 52.
9 Vgl. Lotte Cohn (Berlin) an Rosa Cohn (Kopenhagen?), 26. Juni 1920, CJA, 6.12/1, Nr. 10.
10 Ines Sonder: Lotte Cohn - Pioneer Woman Architect in Israel. Catalogue of Buildings and Projects, Bauhaus Center Tel Aviv, Tel Aviv 2009.
11 Laut dem Archiv der TU Dresden ist Ferchland hier bis 1933 nachgewiesen. Informationen zu ihrem weiteren Lebensweg sind bislang Desiderat. Ich danke Frau Jutta Wiese vom Universitätsarchiv der TU Dresden.
12 Vgl. Ines Sonder: Gartenstädte für Erez Israel. Zionistische Stadtplanungsvisionen von Theodor Herzl bis Richard Kauffmann, Hildesheim u.a.: Georg Olms Verlag, 2005.
13 Lotte Cohn (Berlin) an Richard Kauffmann (Jerusalem), 18. Mai [1927], Central Zionist Archives A175/290.
14 Lotte Cohn: Die Geschichte einer Freundschaft, S. 1 [wie Anm. 4].
15 Lotte Cohn (Tel Aviv) an Julius Posener (Berlin), 1. Juni 1979, Stiftung Akademie der Künste, SAdK, POS-01-184.
Lotte Cohn Pioneer Woman Architect in Israel, 26. März ˆ 28. Mai 2009, Bauhaus Center, Tel Aviv.
Lotte Cohn ˆ Baumeisterin im Land Israel, 30. August ˆ 18. Oktober 2009, Centrum Judaicum, Berlin.