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Die „Stadt des Moses“ in der Pampa

Charles E. RITTERBAND

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An einem glutheissen Dezembertag des Jahres 2000 hatten wir uns, ausgerüstet mit eher vagen geographischen Angaben - und Jahre vor der Erfindung des segensreichen Auto-GPS - auf den Weg gemacht. Wir verliessen Buenos Aires, wo ich einige Jahre lang als Südamerika-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung stationiert war, in nördlicher Richtung. Mesopotamia heisst das fruchtbare Gebiet zwischen den Flüssen Paranà und Uruguay - der eine fliesst aus Paraguay in südlicher Richtung, der andere bildet die Grenze zwischen Urugay und Argentinien, beide vereinen sich im mächtigen Tigre-Delta und strömen langsam in den Rìo de la Plata.

Durch Mesopotamien

Mesopotamien, das klang biblisch und verheissungsvoll; auch die Sintflut konnte man dort erleben, wenn die Flüsse über die Ufer traten, man mit Ruderbooten zwischen Baumwipfeln schwebte und Fische mit Vögeln Freundschaft schlossen. Nicht nur die geographische Bezeichnung Mesopotamien, auch diese Begegnung zwischen den Kreaturen des Wassers und der Luft war irgendwie biblisch.

All das passte zu unserem Vorhaben, der Spurensuche nach gauchos judios. Jüdische Gauchos, die Antithese vom Kaffeehausjuden - das tönte abenteuerlich und romantisch. Klar hatte man jüdische Bauern im Kibbuz besucht und damals, in jungen Jahren, Orangen gepflückt, war in Fischteichen gewatet und nachts in Hühnerställe eingedrungen. Aber das hier war etwas ganz anderes: Jüdische Gauchos, hebräische Cowboys in den Weiten der argentinischen Steppenlandschaft, der Pampa, weit über 10.0000 Kilometer vom „Stetl" und von den Kulturmetropolen Europas, und mehr noch von den israelischen Kibbuzim entfernt.

Mit finanzieller Unterstützung der Jüdischen Kolonisierungsgesellschaft mit Sitz in Paris - der Philantrop Baron Maurice de Hirsch und seine Gattin waren die Geldgeber - wurden Parzellen in den Provinzen Buenos Aires und Santa Fé erworben, auf denen Flüchtlinge aus dem von Pogromen heimgesuchten Russland des Zaren Alexander III. angesiedelt werden sollten. Baron Maurice de Hirsch war auf  seinen Reisen durch Osteuropa auf das bittere Los der entrechteten Juden aufmerksam geworden. Er schloss ein Abkommen mit der argentinischen Regierung, das jüdischen Immigranten den Erwerb von Ländereien ermöglichte und ihnen sogar einen autonomen Status sicherte.

Im Oktober 1888 gingen die ersten russisch-jüdischen Familien in Buenos Aires von Bord; am 14. August 1889 folgten bereits 824 jüdische Familien auf dem deutschen Dampfer Weser. Sie siedelten sich inmitten der Pampa, nordwestlich der nahe des Paranà-Flusses gelegenen Stadt Santa Fé an. Ihre Siedlung nannten sie „Stadt des Moses" - Moisés Ville. Zu Ehren „ihres" Moses, Maurice de Hirsch.

„Basavilbaso"

In unserem geländegängigen blauen Ford Explorer dröhnte die CD des argentinischen Klezmer-Duos César Lerner und Marcelo Moguilevsky, deren berauschende Musik - eine Synthese aus traditioneller jüdischer Musik und Jazz - wir in einem Jazzkeller in Buenos Aires (als willkommene Abwechslung zum allgegenwärtigen Tango!) entdeckt hatten.  Wir erstanden die CD des Duos.  Sie trägt den seltsamen Namen Basavilbaso, und auf dem Cover ist eine verlassene Bahnstation abgebildet. Die Gleise sind mit Gras überwachsen, die Holzgebäude dämmern vor sich hin, doch auf dem Perron ist noch deutlich zu lesen: „Empalme para Paranà y Urugay" (Anschlüsse zu der - am gleichnamigen Fluss gelegenen -  Stadt Paraná und nach Uruguay). Basavilbaso: wenn man das Wort aussprach, wurde es zum Gedicht, und das Gedicht wurde zum Ohrwurm, zur Obsession. Basavilbaso - wir wussten: Da mussten wir hin.

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Basavilbaso, Synagoge, gegr. 1892. Foto: cer

Auf einer vielspurigen Autobahn liessen wir das endlos ausufernde Stadtgebiet von Buenos Aires hinter uns, auf einer kühn geschwungenen Brücke überquerten wir den Paraná und erreichten nach knapp drei Stunden Basavilbaso. Es erwartete uns ein idyllisches, verschlafenes Städtchen unter der heissen Sommersonne; einstöckige Häuschen, vom Verfall gezeichnet, doch immer noch sind an den Fassaden der öffentlichen Gebäude Art-Déco-Elemente deutlich erkennbar.

Ein reiches Kulturleben hatte sich hier einst abgespielt; es gab Clubs, Kaffeehäuser und Sozialeinrichtungen. Davon sind heute nur noch Spuren erkennbar; das Leben für die Neueinwanderer war hart. Die meisten von ihnen waren mit der Landwirtschaft nicht vertraut und scheiterten; die Böden, die man den Emigranten verkauft hatte, erwiesen sich oft als wenig fruchtbar. Als sich in Buenos Aires und anderen Städten leichtere Existenzmöglichkeiten boten, und vor allem nach der Entstehung Israels, verliessen viele die Siedlungen. Nicht wenige zogen weiter in den neu gegründeten jüdischen Staat.

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 Basavilbaso, Monument. Foto: cer

Die jüdischen Orte fielen allmählich in einen Dornröschenschlaf. Am Bahnhof von Basavilbaso rosten die Güterwaggons und inmitten hoher Grasbüschel und Sonnenblumen träumt der rosafarbene hölzerne Waggon eines Personenzuges vor sich hin, davor weidet ein Pferd. Schon lange ist hier kein Zug mehr durchgefahren. Stattdessen rattern gemächlich die Pferdekarren durch die ungeteerten Strassen.

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Dominguez, Pferdefuhrwerk, Foto: cer

Der Quader der über hundertjährigen, 1892 gegründeten Moises-Synagoge gleisst blendend weiss in der Mittagssonne. An der zu Ehren von Baron Hirsch benannten Strasse steht die 1900 gegründete Sociedad Agraria Lucienville.

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Basavilbaso, Hauptquartier der Sociedad Agraria Lucienville, gegründet 1900. Foto: cer

Basavilbaso war nur die erste Station unserer Expedition zu den einstigen Siedlungen der jüdischen Gauchos. Erneut brachen wir in nördlicher Richtung auf, die abenteuerliche Reise führte uns jetzt über holprige, mit Schlaglöchern übersäte Feldwege, vorbei an Rinderherden. Immer wieder stiessen wir am Strassenrand auf Zeugnisse der jüdischen Besiedlung: Ein kleines Bethaus mit einem winzigen Davidstern auf der weissen Fassade, ein Friedhof.

Die jüdische Bevölkerung war hier, so zumindest schien es uns anfänglich, fast nur noch auf den Friedhöfen anzutreffen. Wir führten einen stummen Dialog mit emaillierten Fotografien, auf denen bärtige Männer zu sehen waren und Frauen mit gemusterten Kopftüchern.

In Villa Clara (Hommage an die Ehefrau des Barons Hirsch) standen wir vor den ältesten Häusern der jüdischen Pampa-Siedlungen. In  Dominguez stiessen wir auf das erste jüdische Spital Südamerikas.

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Ingeniero Miguel Sajaroff, Friedhof, sephardische Gräber. Foto: cer

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Ingeniero Miguel Sajaroff, Friedhof, aschkenasische Gräber. Foto: cer

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Ingeniero Miguel Sajaroff, Friedhof, Portrait Gaucho. Foto: cer

Sieben Palmen

In Dominguez erinnert eine Inschrift auf der Wellblech-Fassade an das 100-Jahr-Jubiläum der Colonización judía, der jüdischen Besiedlung  - von 1889 bis 1989: Hier, in diesem unansehnlichen Bau, waren die ersten Siedler empfangen worden, und hier hatte man ihnen ihre Grundstücke zugewiesen.

Immer noch ragten die sieben, bei der Errichtung des Spitals gepflanzten Palmen in den  dunkelblauen Himmel. Die schlanken Palmen verkörperten den siebenarmigen Leuchter, die Menorah, wie uns der Hüter des lokalen Museums erläuterte.

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Dominguez,  Empfangsgebäude für Immigranten: Inschrift 

„Bienvenidos!" - „Seid willkommen!". Foto: cer

Das Museo de la Immigración erzählt mit berührenden Erinnerungsstücken die Geschichte dieser Anfänge: Eine Chuppa, ein Synagogenmantel, Schabbatleuchter, eine klapprige Schreibmaschine, ein Samowar - Gegenstände, die für die ersten Siedler wahre Schätze dargestellt haben müssen.

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Dominguez, Erstes jüdisches Spital Südamerikas, davor 7 Palmen als Verkörperung der Menorah. Foto: cer

 

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Dominguez, Museo de la Immigración. Foto: cer

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Villa Clara, Eines der ersten Häuser. Foto: cer

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Dominguez, Carmel Friedhof, Portrait eines Rabbiners auf einem Grabstein. Foto: cer

Und wieder die Fotos der ersten Siedler: Ernst und ein bisschen traurig blicken sie drein, die bärtigen, frommen alten Männer. In einer knapp über 800 Einwohner zählenden Orts chaft namens Ingeniero Miguel Sajaroff (Villaguay) stiessen wir auf eine kleine Synagoge mit liebevoll geschnitzten hölzernen Empore, und wackligen Stehpulten, auf denen noch zerschlissene Gebetbücher lagen - als warteten sie auf die zittrigen, schwieligen Hände jener alten Männer auf den Fotografien.

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Ingeniero Miguel Sajaroff, Innenansicht der Synagoge. Foto: cer

Salvador Hecker - Der „letzte jüdische Gaucho"

In einer der kleinen Ortschaften kamen uns zwei vielleicht neunjährige Knaben entgegen - und zu unserem Erstaunen sprachen sie uns nicht auf Castillano, auf Spanisch, sondern auf Jiddisch an. Wie in einer Zeitkapsel hatte sich hier jüdisches Leben erhalten. Sie führten uns zu einem Haus. Hier fänden wir den letzten jüdischen Gaucho dieses Ortes, erklärten die beiden Jungen voll Stolz. Salvador Hecker trat aus seiner Tür. Eine imposante Erscheinung, das Haar war ergraut, doch der Körper von ungebrochener Kraft. Baskenmütze, Schnurrbart, melancholischer Blick aus geröteten Augen. Er begrüsste uns mit einem Anflug von Misstrauen, das im Handumdrehen jener Wärme wich, mit der man in Argentinien stets willkommen geheissen wird. Sofort wird der Mate geholt, das hier überall und fast rituell zelebrierte, anregende Aufgussgetränk aus den Blättern des Mate-Strauchs. Getrunken wird er aus Kalebassen, ausgehöhlten Kürbissen, mittels einer Bombilla, einem Metall-Trinkrohr mit eingebautem Sieb. Hecker war Argentinier durch und durch. Für ihn gab es keine andere Heimat.

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Ingeniero Miguel Sajaroff, Der jüdische Gaucho Salvador Hecker, „Der letzte jüdische Gaucho". Foto: cer

Als er zu erzählen begann, war er nicht mehr zu bremsen. Längst war es Nachmittag geworden und die Sonne begann, scharfe, lange Schatten zu werfen. Es war Zeit, an ein Nachtquartier zu denken. Doch Hecker verlor sich immer mehr in den alten Geschichten des Ortes, den Erinnerungen an seine Grosseltern, die als Kinder aus Russland gekommen waren. Viele seien schon wenige Jahre später zurück nach Buenos Aires gegangen, doch seine Familie habe durchgehalten. „Schwere Zeiten", sagte er immer wieder. Politische Krisen, Agrarkrisen, Kriege im fernen Europa. Doch er sei immer noch hier, mit seiner Rinderherde und seinen kleinen Feldern und halte sich knapp über Wasser. Reich sei man dabei nicht geworden - aber man habe wenigstens überlebt. Besser als viele, die in Europa geblieben waren und wohl auch besser als manche in den grossen Städten Argentiniens.

Kulturelle Hochblüte in der Steppe

Letzte Station unserer Spurensuche war Moises Ville, die Stadt des Moses, rund 600 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires. Dies war die erste argentinische Siedlung der jüdischen Einwanderer aus Osteuropa, 1889 gegründet. Moises Ville blieb das Zentrum der Immigranten. Von den einst über 5.000 Einwohnern waren 90 Prozent Juden; von den 2.700 heutigen Bewohnern haben nur noch 250 jüdische Ursprünge. Von den vier Synagogen steht nur noch eine, die Baron-Hirsch-Synagoge, für den Gottesdienst offen, und die jüdische Schule hat nur noch 15 Schüler. Einen Rabbiner gibt es hier schon lange nicht mehr; die Gottesdienste werden von einem Kantor geleitet.

Avenida de los Inmigrantes heisst hier die Hauptstrasse; andere Strassen sind nach der legendären Premierministerin Golda Meir und nach dem Philanthropen Baron Hirsch benannt. Der erste Rabbiner dieser jüdischen Siedlung war Aron Goldmann. Die Ankunft der ersten Juden in Argentinien verglich er mit dem Exodus ins Gelobte Land.
Deshalb wurde die Siedlung mit den ersten, bescheidenen Behausungen Kiriat Mosche genannt, später, als die Bevölkerung wuchs und stattliche Bauten wie die prächtige grosse Synagoge mit ihrer geschwungenen weissen Fassade entstanden, nannte sich der Ort selbstbewusst Moises Ville. Vier Bethäuser gab es hier insgesamt, eine Bibliothek mit 20.000 Büchern und selbst ein jüdisches Theater, das Teatro Kadima (Vorwärts!), auf dessen Bühne Schauspieler aus Europa und den Vereinigten Staaten auftraten. Damals sollen Gastspiele aus dem Ausland sogar in Moises Ville einen Probelauf absolviert haben, bevor sie in Buenos Aires auf den Spielplan gesetzt wurden - so hochkarätig, so kultiviert war das Publikum in dieser jüdischen Pionierstadt. Einmal im Jahr, zu den Hohen Feiertagen - beispielsweise zu Rosch Haschanah oder zu Pessach, dient das Theater als Versammlungsraum, wo die hier verbliebene jüdische Gemeinschaft zum gemeinsamen Festmahl zusammenkommt.

Das Leben in dem Städtchen kommt nach wie vor an zwei Tagen des Jahres zum Stillstand - nicht nur am argentinischen Nationalfeiertag, dem 9. Juli, sondern auch am Yom Kippur, dem höchsten Feiertag des jüdischen Kalenders. Und selbst manchen der mehrheitlich nichtjüdischen Bewohner von Moises Ville kann es bisweilen passieren, dass sich in ihre spanischen Sätze unwillkürlich ein jiddisches Wort hineinverirrt.

Auch hier ein kleines Museum voll von liebevoll zusammengetragenen Gegenständen. Sie erinnern an die Menschen, die einst in dieser Stadt gelebt haben. Zu den bemerkenswertesten Dingen, die hier zu sehen sind, gehört eine Urkunde aus dem Jahr 1888. Auf dieser wird festgehalten, dass der lokale Geschäftsmann Pedro Palacios 100.000 Hektar Land erworben hatte, das er parzellierte und für 40 Pesos pro Hektar an die jüdischen Neueinwanderer verkaufte. Auch russische Reisepässe, ausgestellt im Jahr 1905, mit denen die jüdischen Flüchtlinge in Argentinien eingetroffen waren, finden sich in den Schaukästen.

Die Leiterin des historischen Museums der Mosesstadt, Eva Guelbert de Rosenthal, berichtet, dass in den 50er Jahren zahlreiche Familien aus Moises Ville nach Israel auswanderten. Aber selbst viele Kinder aus Familien, die hier geblieben sind, seien in die Städte gezogen, die ihnen bessere Ausbildungs- und vor allem Studienmöglichkeiten geboten hätten. Sie kehrten nur noch zurück, um ihre alternden Angehörigen zu besuchen; angemessene Arbeitsmöglichkeiten fänden sie hier in den seltensten Fällen.

Die Juden sind in Moises Ville längst eine Minderheit, doch das Zusammenleben mit der Mehrheit ist harmonisch. In der Bäckerei der Gebrüder Bernardino und Anibal Urban, deren Familie aus Italien stammt, bietet neben den üblichen argentinischen Backwaren auch jüdische Spezialitäten an. Zu Rosch Haschanah wird hier die Chalah, das traditionelle jüdische Zopfbrot verkauft.  Und jeweils zu Yom Kippur bleibt die Bäckerei der Brüder Urban geschlossen - aus Respekt vor den jüdischen Mitbürgern. Dieser beruhte schon immer auf Gegenseitigkeit: Juden und Christen laden einander gegenseitig zu ihren religiösen Festen - und die einzige Kirche in der Stadt des Moses, die Nuestra Senora de la Merced, wurde einst aus Mitteln der jüdischen Siedlungsgesellschaft des Baron Hirsch erbaut.

Literaturhinweise:

Alejandro Jodorowsky: Los gauchos judìos. 1910. Erstmals wird hier die jüdische Migration in den Süden der Neuen Welt in spanischer Sprache literarisch thematisiert. Auch Alberto Gerchunoff schildert die jüdischen Gauchos, die von Galizien nach Argentinien gelangten.  Das Thema Los gauchos judìos wurde 1975 von Juan José Jusid verfilmt (mit José Soriano und Gina Mari Hidalogo in den Hauptrollen), der Film ist auch als DVD erhältlich.