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Rosch Haschanah

Walter ROTHSCHILD

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Rosch Haschanah, der „Kopf des Jahres", ist kein „Festtag" im üblichen Sinn - obwohl man natürlich die Frage stellen könnte: Was heisst „üblich"? Bei einer Geburtstagsfeier zum Beispiel könnte man fragen: Feiert man, dass noch ein Jahr beginnt, oder, dass schon ein Jahr vorbei ist? Kann man beides zur gleichen Zeit tun? Vielleicht hängt das mehr vom Alter ab, das man erreicht hat, von den Erlebnissen des vergangenen Jahres und den Hoffnungen oder Befürchtungen, vor denen man steht. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass man noch ein Jahr überlebt hat, oder damit, dass man noch ein Jahr beginnen darf.

Als ein „Tag des Gerichts" (Jom HaDin) ist es bei diesem Festtag natürlich relevant, mehr nach rückwärts als nach vorne zu schauen. In einem Rückblick kann man bis zu hundert Prozent des Geschehenen durchschauen - aber nur, wenn man klar und richtig blickt. Ein Gericht interessiert sich dafür, was wirklich geschehen ist, nicht für die vagen Pläne oder Ausreden der Beteiligten. Man wird mit Fragen konfrontiert, sehr persönlichen, sogar intimen Fragen: Was habe Ich getan? Was habe Ich versäumt, wo habe Ich versagt? Was hätte Ich besser machen können, was hätte Ich lieber nicht machen sollen, was muss Ich wiederholen, was soll Ich nie wieder tun? (Die wICHtigen Fragen sind jene mit „Ich".) Die Fragen sind nicht endlos, weil man (wegen des Gerichts) eigentlich nur ein Jahr zurückblicken darf, obwohl es natürlich nicht immer sinnvoll ist, ein Jahr, für sich allein, aus seinem Kontext zu nehmen. Trotzdem, wir sind, wer wir sind. Es ist für uns nötig, irgendwo einen Anfangspunkt und einen Endpunkt zu setzen, einen terminus a quo und einen terminus ad quem. Und der grosse Vorteil daran sollte sein, dass man nicht immer noch tiefer schaufeln muss, um in den allertiefsten, hintersten Ecken der eigenen Psyche zu forschen. In Wien ist es natürlich seit Sigmund Freud und seinen Zeitgenossen, Kollegen und Konkurrenten Tradition, so weit wie möglich in die frühe Kindheit zurückreichend zu suchen, um alles über unser gegenwärtiges Verhalten zu verstehen. Das mag sein - aber eine vollständige Therapie brauchen jene Leute am meisten, die mit ihrer Gegenwart nicht zufrieden sein können; sie fühlen sich immer irgendwie von der fernen Vergangenheit nicht nur beeinflusst, sondern auch bedroht. Also, ein einziges Jahr als eine Einheit - das sollte theoretisch schon genug sein. Und wir suchen nicht in der frühen Kindheit nach Ausreden, um unsere Hilflosigkeit zu bestätigen, sondern in den vergangenen Monaten, in unseren Taten als selbst-verantwortliche Erwachsene.

Aber Teschuwa heisst auch, dass man versucht, aus der Vergangenheit zu lernen und daraus eine bessere Zukunft zu schaffen - wobei nicht alles zu kontrollieren ist, aber man kann zumindest versuchen, nicht die gleichen Fehler zu wiederholen. Solch ein Zugeständnis und solche Reue möchte ein Gericht auch gern hören! Dass der Angeklagte bereut und verspricht, sich zu bessern.

Und vorwärts? Wie geht es vorwärts? Bringt Teschuwa eine Art „Ein-Jahres-Garantie"? Was wird das kommende Jahr bringen? Es gibt einen alten Spruch: „Wie bringt man Gott zum lachen? Erzähle Ihm deine Zukunftspläne!" Jedes Mal, wenn man einen 12-monatigen Kalender kauft, ist das ein Zeichen des Optimismus. Wird man ihn je brauchen? Wie kann man so weit vorwärts planen? Wir glauben an das ewige Leben, und trotzdem kaufen wir Lebensversicherungen!

Natürlich kann man nicht alles planen. Aber man kann hoffen, man kann bitten und beten. Man kann etwas unternehmen, damit man - hoffentlich - gesunder bleibt als früher, einige Risken vermeiden kann, einige dumme Fehler nicht machen muss. Man kann lernen - der Mensch soll nach dem neuesten Stand des Wissens eine Tierart sein, die lernt, obwohl man (ehrlich gesagt) in der Wirklichkeit nicht immer einen Beweis dafür findet.
Rosch Haschanah als Ende und als Anfang, in einem Zyklus. Wir bleiben, wie immer, in der Mitte, in Transition, im Übergang, zwischen den Jahren. Auf dem Weg. Was wird das kommende Jahr mit sich bringen? Inwieweit kann ich das beeinflussen? Wie schwarz sind die Wolken, wie deprimierend die Zeichen der Zeit, die politischen Entwicklungen, das Klima, die Wirtschaft, meine eigenen Schmerzen und die Warnzeichen, die mich informieren, dass mein Körper nicht mehr so jung ist wie er es war, zum letzten Rosch Haschanah? Um es ganz direkt zu sagen: Wie oft werde ich diese Frage zu Rosch Haschanah noch stellen müssen?

Ein Jahr zurück blicken, und ein Jahr nach vorne. Wir wünschen einander „LeSchanah Towah Tikatewu" - „Sie sollen für EIN gutes Jahr für ein gutes Schicksal eingeschrieben werden". Weiter nach vorne können wir nicht blicken, nicht hoffen. „One year at a time" - so geht man durch das Leben. So lange, wie man kann, so lange, wie man darf.
Schalom! Und ... Schanah Towah! n