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Die halachische Existenz – Joseph Dov Soloveitchik

Domagoj AKRAP

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„I remember when I was very young I was a solitary boy, afraid of the world. But I had one friend, and he was - do not laugh - the Rambam."1

Diese Worte über Soloveitchiks Kindheit sind uns in den Erinnerungen seiner Schwester überliefert. Sie weisen auf einen der Grundgedanken hin, mit denen Soloveitchik Zeit seines Lebens ringen musste: die Einsamkeit des Menschen und sein Ohnmachtgefühl gegenüber der Welt. Joseph Dov Soloveitchik (1903-1993) wurde als Spross einer religiös gebildeten Familie im weissrussischen Pruzhana geboren.2 Die Familie gehörte dort seit Generationen zu den bedeutendsten und berühmtesten unter den Mitnagnim, den anti-chassidisch orientierten Vertretern eines religiösen, von talmudischer Bildung herkommenden Intellektualismus. Die Verwandtschaft reicht zurück bis zu Chaim von Volozhin (1749-1821), einen der Schüler des Gaon von Vilna (1720-1797), dem ideellen Vater der Mitnagdim. Der junge Joseph Baer Dov wuchs in einer von Lernen geprägten Atmosphäre auf, wobei als wichtigster Lehrer sein Vater Rabbi Moses Soloveitchik (1879-1941) fungierte, der bis kurz nach der Russischen Revolution im Jahre 1917 als Rabbiner im weissrussischen Khaslavichy amtierte. Ganze Passagen des halachischen Hauptwerkes von Maimonides, Mishneh Torah, konnte der Junge aus dem Kopf zitieren. Diese Fertigkeit hing wohl mit der Brisker Methode (Brisker Derekh) zusammen, einer Lernmethode, die sein Grossvater Chaim Soloveitchik (1853-1918) in der Yeshivah von Brisk eingeführt hatte. Sie zeichnete sich durch exakte Analysen der talmudischen Diskussionen, das Herausarbeiten der darin zugrunde liegenden Strukturen und ihre Klassifizierung sowie eine kritische Unabhängigkeit beim Studium aus. Besonderer Wert wurde dabei auf Maimonides' Mishneh Torah gelegt, wodurch der Grosse Adler bereits im Kindesalter Eingang in Soloveitchiks Leben fand. In weltlichen Fächern unterwiesen ihn hauptsächlich Privatlehrer, deren Arbeit 1922 vom Gymnasium in Dubno anerkannt wurde, so dass er während seiner gesamten Jugend nie eine säkulare Bildungsstätte besuchen musste. 1924 inskribierte er an der Freien Polnischen Universität in Warschau und begann das Studium der Politikwissenschaft, das er nach drei Semestern abbrach, um wie viele seiner osteuropäischen Zeitgenossen nach Berlin zu gehen. In der deutschen Metropole widmete er sich ganz dem Studium der Philosophie. Vor allem der Neukantianismus und das Denken Hermann Cohens zogen ihn in ihren Bann; so verfasste er 1932 seine Dissertation zu diesem Thema mit dem Titel: Das reine Denken und die Seinskonstituierung bei Hermann Cohen. Unmittelbar nach dem Abschluss seiner Studien wanderten Soloveitchik und seine Frau, die er im Jahr zuvor geheiratet hatte, in die USA aus, wo sein Vater bereits seit 1929 eine Anstellung am Rabbi Isaac Elchanan Theological Seminary in New York hatte. Soloveitchik liess sich in Boston nieder, der Stadt, die bis zu seinem Tode sein Domizil bleiben sollte. Dort nahm er zunächst eine Rabbinerstelle in der orthodoxen Gemeinde an. Die ersten Jahre in der neuen Welt waren vor allem von der Gemeindearbeit geprägt, so gründete er 1937 die erste jüdische Tagesschule in Neuengland mit dem Namen Maimonides School. 1941 wurde er schliesslich zum Nachfolger seines Vaters als Professor an das Rabbi Isaac Elchanan Theological Seminary berufen. 1945 erlangte das Seminar Universitätsstatus, und seither ist es allgemein unter dem Namen Yeshiva University bekannt. Wie kein anderer formte Soloveitchik diese Institution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und trug damit entscheidend dazu bei, dass die moderne Orthodoxie (modern orthodox) in den USA von einer Randerscheinung zu einer selbstbewussten und selbständig auftretenden Gruppierung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geworden ist. In seiner lang währenden Lehrtätigkeit ordinierte er an die zweitausend Rabbinats-Absolventen, wodurch eine gesamte Generation junger orthodoxer Rabbiner unmittelbar von ihm geprägt wurde. Wie sehr seine Person weltweit in orthodoxen Kreisen und insbesondere in Israel angesehen war, zeigt eine Begebenheit aus dem Jahre 1959, als er für den Kandidaten des aschkenasischen Oberrabbiners des Staates Israel vorgeschlagen wurde. Ein Angebot, das Soloveitchik mit dem Argument ablehnte, nicht in die Position eines von der Politik abhängigen Rabbiners oder gar Staatsbeamten kommen zu wollen.3 Bis 1985, als er sich krankheitsbedingt von seiner Lehrtätigkeit an der Yeshiva University zurückziehen musste, war „der Rav", wie er ehrfürchtig von seinen Schülern und Studenten genannt wurde, unzertrennlich mit dieser Institution verbunden.

Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass eine Persönlichkeit wie Soloveitchik verhältnismässig wenig veröffentlicht hat. Ein magnum opus, das mit seinem Namen untrennbar verbunden ist, wie wir es von Hermann Cohen (Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums) oder Franz Rosenzweig (Der Stern der Erlösung) kennen, hat er nicht verfasst. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass er sich vornehmlich als Mann der mündlichen Lehre und des Vortrags, der Derashah verstanden hat, und zum anderen mit dem in seiner Familie verbreiteten Hang zum Perfektionismus. Dessen ungeachtet können für das Verständnis seiner religiösen und philosophischen Ansichten folgende drei Werke hervorgehoben werden: The Halakhic Man (urspr. hebr. Ish ha-halakhah, 1944), The Halakhic Mind (1944) und The Lonely Man of Faith (1965).4 Soloveitchik geht es primär um die Ausarbeitung einer an der Halacha orientierten jüdischen Existenz. In Halakhic Man schildert er drei verschiedene Menschentypen: den homo religiosus, den homo scienticus und den Mensch der Halacha. Letzterer wird eingangs mit folgenden Worten beschrieben:

„Halakhic man reflects two opposing selves; two disparate images are embodied within his soul and spirit. On the one hand he is as far removed from homo religiosus as east is from west and is identical, in many respects, to prosaic, cognitive man; on the other hand he is a man of God, possessor of an ontological approach that is devoted to God and of a world view saturated with the radiance of the Divine Presence. [...] In some respects he is a homo religious, in other respects a cognitive man."5

Während der Mensch der wissenschaftlichen Erkenntnis vor allem die Geheimnisse der Welt aufdecken und sie in ihren naturgesetzesmässigen Rahmen einordnen will, ist der homo religiosus verzaubert vom Geheimnis der Existenz und sucht gar nicht das Geheimnis, das ihn in Bann gezogen hat, zu lösen. Der Mensch des Glaubens sieht in der Gesetzmässigkeit der Welt das Geheimnis, einen nicht zu entziffernden Code. Oder mit Soloveitchiks Worten:

"The very nature of the law itself, the very phenomenon of cognition is an open book for cognitive man and a closed one for homo religious.6

Der kognitive Mensch setzt sich aber auch selbst Grenzen. Alles, was ausserhalb der offenbarten Naturgesetze liegt, lässt er unbeachtet, da ja das Auffinden der Gesetzmässigkeiten das eigentliche Ziel seines Strebens ist. Der homo religiosus wendet sich, von dieser Welt enttäuscht, Dingen zu, die unsere Wirklichkeit übersteigen. So wird diese Welt nur zu einem schwachen Abklatsch einer besseren „anderen Welt", und alle Entbehrungen in dieser Welt werden schliesslich in der imaginären anderen Welt vergolten. Von diesem Gegensatzpaar ausgehend führt uns Soloveitchik zum Menschen der Halacha. Auf den ersten Blick überraschend, vergleicht er ihn mit einem Mathematiker. So wie er bildet auch der Mensch der Halacha eine ideale Welt, um dann zwischen ihr und der realen Welt eine Beziehung herzustellen. Ausgerüstet mit dem perfekten Modell, das durch die Halacha gegeben wurde, versucht er, dem Naturwissenschaftler gleich, die Wirklichkeit diesem Muster unterzuordnen.7 Dennoch ist er kein säkularer Mensch, der von der Transzendenz unberührt bleibt. Die Ähnlichkeiten zum Menschen des Glaubens bleiben bestehen, nur bewegen sich der homo religiosus und der halachische Mensch in entgegengesetzte Richtungen.

„Homo religiosus starts out in this world and ends up in supernal realms; halakhic man starts out in supernal realms and ends up in this world."8

Während der homo religiosus unzufrieden und von der Welt enttäuscht dieser den Rücken kehrt, sehnt sich der halachische Mensch danach, die Transzendenz von den Höhen auf unsere vergängliche und dem Tod unterliegende Welt hinunterzubringen, um sie dadurch in einen Ort der Lebenden umzuwandeln. Er möchte die göttliche Gegenwart in die von Raum und Zeit begrenzte Existenz bringen. Der Mensch der Halacha unterliegt nicht der mystischen Versuchung, nach dem Transzendenten zu greifen, sondern möchte eher diese Welt, die Wirklichkeit mit ihm erfüllen. Die Halacha sucht nicht das Abstrakte, das Mysteriöse, sie orientiert sich vielmehr an den uns real umgebenden Gegebenheiten. Eine klare antimystische Einstellung wird hier sichtbar, sie wendet sich daher auch gegen die im Chassidismus vorherrschende übertriebene Subjektivität und findet den wahren Ort der Gottesbeziehung im Studium der Torah.

„The cognition of the Torah - this is the holiest and most exalted type of service."9

Die Halacha wird so zum dritten Weg, der zwischen dem kognitiven Menschen der (Natur)-wissenschaft und dem homo religiosus eine Brücke schlägt. Trotzdem bleibt der Mensch der Halacha von der spirituellen Kluft nicht verschont, auch er ist in seiner Existenz zerrissen, aber durch das Konzept der Halacha und des Gesetzes kann er sie überwinden. Sein stärkster Wunsch ist die Vervollkommnung der Welt unter der Herrschaft von Gerechtigkeit und Nächstenliebe; es ist die Verwirklichung der idealen Schöpfung (der Torah und Halacha) im Bereich des konkreten Lebens.10
Wegen seiner Zentriertheit auf die menschliche Existenz wird Soloveitchik gerne als Begründer eines orthodoxen jüdischen Existenzialismus bezeichnet. Sein Buch The Lonely Man of Faith gilt als klassisches Beispiel für diesen religiösen Existenzialismus. Sein Augenmerk richtet er auf die Dilemmata des religiösen Menschen im säkularen Zeitalter, auf sein in die Welt Geworfen-Sein und sein auf den Anderen, auf den Mitmenschen Angewiesen-Sein. Anhand der ersten Genesiskapitel zeigt er die bereits in der Schöpfung einsetzende Zerrissenheit des Menschen. Die zwei Schöpfungsberichte führt er nicht so wie die Bibelkritik auf zwei verschiedene Textquellen zurück, sondern sieht in ihnen die zweifache Natur des Menschen vorgezeichnet. So unterscheidet er Adam I und Adam II, sie stehen für zwei Typen der Menschheit.11 Adam I steht für den der Welt zugewandten, die Schöpfung beherrschen wollenden Typ. Adam II hingegen stellt den für das Geheime offen stehenden, nach Innerlichkeit und Spiritualität suchenden Menschen dar. Er ist der zerrissene Mensch, es musste ihm erst eine „Gehilfin, wie sie ihm zusteht" (Gen. 2,20) geschaffen werden, damit er vollkommen wird. Adam I ist der personifizierte technik-orientierte Mensch, der cognitive man, der friedlich mit den anderen Wesen lebt (da Mann und Frau gemeinsam geschaffen wurden) und an Wissenschaft und Fortschritt glaubt, während Adam II für den homo religiosus steht, dessen Streben der Erlösung gilt, er ist der lonely man of faith; durch den eingegebenen Hauch des Lebens wird seine engere Bindung an den Ewigen gezeichnet. Im Anschluss an Gen. 2,18: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei" - schreibt Soloveitchik:

„To be means to be  the only one, singular and different, and consequently lonely ... The „I" is lonely, experiencing ontological incompleteness and casualness, because there is no one who exists like the „I" and because the modus existentiae of the „I" cannot be repeated, imitated or experienced by others."12

Die Kluft, die zwischen den beiden Adamtypen herrscht, überwindet der selbstbewusste halachische Mensch mittels schöpferischen Eingreifens in die Welt. So bedeutet für Soloveitchik das Studium der Torah vor allem, neue schöpferische Einsichten aus dem Text herzuleiten (hidushe torah).

"The dream of creation is the central idea in the halakhic consciousness - the idea of the importance of man as a partner of the Almighty in the act of creation, man as creator of worlds."13

Der Mensch erfährt sich als geschaffener Schöpfer durch das selbständige Schaffen, das ihm mit der Halacha zur Aufgabe gegeben wurde. Dadurch wird der Mensch zum Partner Gottes bei der Schöpfung, und das ist die Essenz des Verses: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn." (Gen. 1,27) Die Welt soll durch die Verwirklichung des Ideals der Halacha von ihren Mängeln bereinigt werden, und so ist es gerade das Prinzip der Selbsterschaffung des Menschen, das vom Judentum in die Welt getragen wurde. Die Aufgabe, an der Weltschöpfung aktiv teilzunehmen und sie zu heiligen ist auch der bestimmende Unterschied des halachischen Menschen zum homo religiosus. Diese aktive Tat zur ethischen Selbstverwirklichung ist nach Soloveitchik am besten durch die Reue (teshuvah) zu erreichen. Sie wird als aktiver Akt der Rückkehr zum Schöpfer verstanden, bei dem der Betreffende ein neues „Ich" erschafft. Die höchste bei der Schöpfung geschaffene Gestalt ist die des Propheten. Ganz im Einklang mit seinem „Jugendfreund" Rambam schreibt Soloveitchik daher:

"When a person reaches the ultimate peak - prophecy - he has fulfilled his task as a creator. [...] In sum, the task of creation with which man is charged is, according to the Halakhah, a triple performance; it finds its expression in the capacity to perform teshuvah, to repent, continues to unfold in hashgahah, the unique providence which is bestowed upon the unique individual, and achieves its final and ultimate realization in the reality of prophecy and the personality of the prophet. [...] This is the path that the Halakhah has charted for man to travel."14

Der halachische Mensch ist schliesslich der wahrlich freie Mensch. Er beteiligt sich an der Erschaffung einer vollkommenen Welt, wodurch er sich selbst neu schafft und zu einem Menschen Gottes wird. n

1  Meiselman, Shulamith: The Soloveitchik Heritage. A Daughter's Memoir. Hoboken, NJ 1995, S. 152.

2   Zum Leben von Soloveitchik siehe: Weiss, Saul (Hg.): Insights of the Rav. Rabbi Joseph B. Soloveitchik: Discourses on Fundamental Theological Issues in Judaism. Maryland [u.a] 2005; Rakeffet-Rothkoff, Aaron: The Rav. The World of Rabbi Joseph B. Soloveitchik. New York 1999; Rutishauser, Christian M.: Josef Dov Soloveitchik. Einführung in sein Denken. Stuttgart 2003.

3   Rutishauser, Christian M.: Josef Dov Soloveitchik. Einführung in sein Denken. Stuttgart 2003, S. 35. Von der hohen Ehrerbietung, die Soloveitchik entgegengebracht wurde, zeugt auch, dass er ein rabbinisches Akronym bekommen hat: Grid (für Gaon Rav Joseph Dov).

4   The Halakhic Man wurde erst 1983 ins Englische übersetzt. The Halakhic Mind, das zur gleichen Zeit wie The Halakhic Man entstanden sein durfte, ist erst 1986 veröffentlicht worden. The Lonely Man of Faith ist ursprünglich als Artikel in der Zeitschrift Tradition erschienen und liegt seit 1992 in Buchform auf.

5   Soloveitchik, Joseph B.: The Halakhic Man. Philadelphia 1983, S. 3.

6     Ebenda, S. 9.

7     Vgl. ebenda, S. 19 bzw. 29.

8      Ebenda, S. 40.

9      Ebenda, S. 87.

10    Vgl. ebenda, S. 94.

11    Die Schlüsselverse in der Bibel lauten: Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, Mann und Weib schuf er sie. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde und machet sie euch untertan... (Gen. 1,27f.) und: Da bildete der Ewige, Gott, den Menschen aus Staub von dem Erdboden, und blies in seine Nase Hauch des Lebens, und es ward der Mensch zu einem Leben-Atmenden... Und es nahm der Ewige, Gott, den Menschen, und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bauen und zu warten. (Gen. 2,7 bzw. 2,15).

12    The Lonely Man of Faith, S. 40f.

13    The Halakhic Man, S. 99.

14    The Halakhic Man, S. 130f.