Gegenwärtiger alltäglicher Antisemitismus, Judenfeindschaft im weitesten Sinn, zeigt sich in vier Grundphänomenen: Der christliche Antijudaismus, also die religiös motivierte, aber auch kulturell, sozial und ökonomisch determinierte Form des Ressentiments gegen Juden vom Mittelalter bis zur Neuzeit, spielt heute in Deutschland eine untergeordnete Rolle. Die zweite Form von Judenfeindschaft ist der Rassenantisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstand und in den Holocaust mündete. Er ist vor allem in der rechtsextremen Szene verbreitet und lebt durch Stereotypen auch in der Mehrheitsgesellschaft. Die dritte Version des Vorbehalts, Judenfeindschaft nach dem Holocaust, der sekundäre Antisemitismus, speist sich aus Gefühlen der Scham und Schuldabwehr. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz werden Ressentiments gegen Juden mobilisiert, die sich an Entschädigungsleistungen und Wiedergutmachungszahlungen kristallisieren.
Eine weitere Erscheinungsform antijüdischer Ressentiments, der Antizionismus, war ein wichtiges Element der Politik und Propaganda der DDR. Dieses Ressentiment, das dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht, das auch im linken Spektrum der Bundesrepublik vor 1989 schon eine Rolle spielte, breitet sich aus, weil es, unter dem Vorwand, die Politik Israels zu kritisieren, ein Ventil öffnet, gegen „die Juden" insgesamt gerichtete Aversionen zu artikulieren. Zu unterscheiden ist auch zwischen manifestem Antisemitismus, der sich in Attacken gegen Personen, in Sachbeschädigungen und Propagandadelikten äussert sowie einem latenten Antisemitismus, der sich im Alltagsdiskurs allenfalls als stillschweigendes Einverständnis über „die Juden" zeigt, der aber überwiegend auf der Einstellungsebene bleibt, also vor allem bei Meinungsumfragen in Erscheinung tritt. Manifester öffentlicher Antisemitismus ist wegen der Regeln politischer Kultur in Deutschland selten. Die zur Verfolgung kommenden Straftaten sind Akte von Volksverhetzung, Friedhofschändungen und Anschläge auf Synagogen. Latenter Antisemitismus gehört nach Meinungsumfragen jedoch zum Weltbild von 20% der Deutschen. Das wird, wie die folgenden Beispiele zeigen, auch offen artikuliert.
Die israelische Botschaft in Berlin erhält seit Jahren immer gleiche Telephonanrufe, in denen Hass und primitive Weltsicht zum Ausdruck gebracht werden: Die Skala der Unfreundlichkeit reicht von „Massenmörder" oder „Wir kriegen euch alle!" bis zu „Ihr sollt von dieser Erde verschwinden!". Zu den telephonisch oder per E-Mail geäusserten stereotypen Beschimpfungen gehört „Was Sie tun ist das Gleiche, was die Nazis mit euch getan haben", oder die Frage „Haben sie denn nichts gelernt?", schliesslich die bedauernde Feststellung „Hitler hat seinen Job nicht fertig gemacht!".
Die affekthaften Unmutsäusserungen lassen sich nicht quantifizieren, und es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass „die Deutschen" mehrheitlich so dächten wie die Unbelehrbaren und Einfältigen, die Israels Politik aus dem Kontext der Bedrohung durch feindselige Nachbarn gelöst dazu benutzen, einer Judenfeindschaft Ausdruck zu geben, die auf andere Weise in Deutschland sanktioniert ist. In der politischen Kultur der Bundesrepublik ist Antisemitismus verpönt und kriminalisiert, deshalb suchen die Judenfeinde nach solchen Auswegen. Ein Nebeneffekt besteht immer auch in der Linderung des Druckes von Schuld und Scham, den der Holocaust im Bewusstsein vieler Deutscher erzeugt. Wenn sie glauben, „die Juden" unrechtmässiger Handlungen überführen zu können (die ihrer angeblichen Natur entspringen), dann geht es Briefschreibern wie diesen besser:
„Warum ermorden sie ständig Palästinenser, wie einst die Nazis die Juden? Sie führen den gleichen Propagandakrieg wie einst die Nazis gegen ihre Kritiker. Das arrogante Verhalten von Israel ist für viele Deutsche nicht mehr ertragbar".
In einer anderen Zuschrift an die Israel-Botschaft heisst es: „Sie benehmen sich wie die deutsche Wehrmacht 1939 in Polen" - wieder jemand anderes folgt der gleichen scheinbaren Logik und behauptet:
„Es gibt wohl nichts Perverseres als faschistisch agierende Israelis! Ihr habt echt gut begriffen wie‘s funktioniert. Von dem braunen Bodensatz im Dritten Reich gelernt, wie man KZ's schafft... nein, besser, ihr habt's perfektioniert, ihr baut keine KZ, ihr macht ganze souveräne Staaten zu KZ!".
Alltägliche Judenfeindschaft manifestiert sich überwiegend verbal. Antisemitische Gewaltdelikte gegen Personen sind in Deutschland selten, häufiger richtet sich Judenhass im Schutze der Anonymität gegen Friedhöfe und jüdische Kultstätten. Der Diskurs in Familien, am Arbeitsplatz, in der Freizeit entzieht sich im allgemeinen der Analyse, ist allenfalls in Meinungsumfragen in Annäherungen zu erkennen. Manifestationen im Umkreis von Sportereignissen sind im einzelnen so schwer fassbar wie die Vorgänge in Schulen. Wir wissen zwar, dass in der jüngsten Generation der Begriff „Jude" ebenso wie die Metapher „Opfer" als Schimpfwort gebraucht wird, aber dem analytischen Zugriff sowohl hinsichtlich der Qualität wie der Dimension bleibt solches Geschehen weitgehend entzogen. Eine gute Quellenbasis sind aber Zuschriften an jüdische Adressen wie Gemeinden, den Zentralrat, die Israelische Botschaft.
Eine alte Dame aus Detmold, Jahrgang 1934, die als 10-Jährige die Flucht vor der Roten Armee aus Ostpreussen erlebte und dies zum Anlass nimmt, sich mit der vor der israelischen Armee fliehenden palästinensischen Zivilbevölkerung zu solidarisieren, schreibt an den Israelischen Botschafter: Sie hat das Bedürfnis, sich als demokratische Bürgerin zu legitimieren und betont, dass sie mit den heranwachsenden Kindern zweimal Bergen-Belsen und andere Gedenkstätten besucht hat, ehe sie mitteilt, dass sie überlege „in Zukunft vom Einkauf israelischer Produkte Abstand zu nehmen. Der Brief beginnt mit der Frage „darf sich Israel alles erlauben?" und fügt eine zweite hinzu „Haben nur wir aus unserer Vergangenheit zu lernen (und zu zahlen)?"
Besonders erschreckend wegen des gesellschaftlichen Status‘ und der Möglichkeiten der Einflussnahme ist die Zuschrift eines Studiendirektors aus München. Rhetorisch elaboriert und inhaltlich abgefeimt durch nahegelegte Assoziationen nimmt er den Gaza-Krieg zum Anlass, um allgemeinen Judenhass im Gewand von Israelkritik, argumentativ zugespitzt auf eine bestimmte Beobachtung, zu artikulieren:
„Seit Jahren verfolge ich die Unterdrückungs- und Terrormassnahmen der israelischen Juden gegenüber den Palästinensern. Seit Wochen verfolge ich, mit welchem Brutalität sie gegen ein wehrloses Volk vorgehen, dessen Land Sie gestohlen haben. Seit Tagen wundere ich mich über Ihre KZ-Massnahmen gegenüber Kindern, Frauen, UNO. Seit einigen Stunden sieht man am Fernseher, wie israelische Juden (es gibt ja auch Araber in Ihrem - besser in deren - Land, aber die sind zu solchen Schweinereien nicht fähig) an die Grenze zu Gaza fahren, um das Morden an der arabischen Bevölkerung per Teleskop und Fernstecher [sic!] zu verfolgen."
Typisch auch am folgenden Argumentationsmuster ist der mehrfache Rückbezug auf nationalsozialistische Verbrechen, von denen man sich distanziert, die gleichzeitig als moralisches Postulat an die Juden adressiert werden. Ein Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland beginnt mit der Feststellung „die Juden und andere Völker haben unter der Naziherrschaft grausame Leiden und viele zu Tode gefolterte Menschen zu beklagen". Daraus wird, nachdem der Schreiber versichert hat, dass die Nachkommen der Täter nicht mehr büssen müssten, etwa durch Finanzierung von Kriegsmaterial für Israel, gefolgert: „Das jüdische Volk sollte aus der Geschichte gelernt haben", sei aber tatsächlich ein „Volk von Kriegstreibern", das Frauen und Kinder morde. Nach der Auflistung von Beweisen wird abermals vermutet, die Juden hätten aus der Vergangenheit nichts gelernt oder nur dies, „die Deutschen zur Kasse zu bitten". Die Konklusion erweist den vermeintlich israelkritischen Impetus, mit dem der Verfasser auftritt, als antisemitisch, wenn er schreibt: „Ich sehe die Juden in Deutschland genauso als Täter, wie die Juden und ihre mörderische kriegstreiberische Regierung in Israel. ... Ich verachte die Israelis. Ihre Kinder und Kindeskinder werden dafür bezahlen, genau wie sie es von den Deutschen verlangen".
Antisemitismus wird oft als Mittel zum Zweck agiert. Nur eine kleine Minderheit wird sich als ideologisch festgelegte Gruppe von Judenfeinden im traditionellen Sinne ausmachen lassen; die Mehrheit derer, die mit antisemitischen Vorurteilen, Stereotypen, Klischees hantieren, hat bestimmte politische, in der Regel deutschnational-patriotische Absichten. Erhofft ist die Befreiung vom Schuld- und Leidensdruck, der durch das Bewusstsein vom Völkermord verursacht ist. Voraussetzung der Erlösung ist eine Schuld der Juden, die Opferfunktion der Juden muss dazu ausser Kraft gesetzt werden: Juden, die als Täter wahrgenommen werden, erlauben es, Gefühle der Empathie, des Schuldbewusstseins, des Unbehagens durch Parteinahme gegen die Juden zu ersetzen. Dazu braucht es Gründe: etwa die Politik Israels, Schuld gegenüber den Palästinensern, als willkommener Ansatzpunkt für Ablehnung, für den Entzug von Empathie, für Zuwendung an die arabische Seite. Israelkritik dient damit als Ventil für generelle Judenfeindschaft, die anders nicht ungestraft zu artikulieren ist.
Antisemitismus funktioniert als hermetisches System. Dem entspricht die Argumentationsstrategie der Behauptung von „Tatsachen", deren Unbeweisbarkeit in Verschwörungsphantasien als Beweis dargestellt wird. Die Argumentation bleibt damit intellektuell und emotional unerreichbar für logische Einwände. Das erklärt auch das zähe Leben judenfeindlicher Vorurteile und Stereotypen und ihre Präsenz im Alltag.
Dr. Wolfgang Benz, geboren 1941, Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, 1992 Geschwister-Scholl-Preis.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichts-wissenschaft, Gastprofessuren in Australien, Mexiko, Bolivien, Belfast und Wien.
Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte im 20.
Jahrhundert, zuletzt Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und die Entstehung der DDR 1945-1949, Berlin 2009.