Miriam Magall: „O, Deutschland! Deine Dichter und Denker!“
Wie deutsche Schriftsteller, Politiker und Kirchen Juden und Israel heute sehen.
Lich/Hessen: Verlag Edition AV 2017
194 Seiten, Euro 18,00
ISBN 978-3-86841-150-8
Die Autorin: Miriam Magall s.A., vormals Keren Kowalski (geb. am 7.12.1942 in Treuburg/Ostpreussen, heute: Olecko/Polen; gest. am 17.08.2017 in Berlin), war eine deutsch-israelische Übersetzerin und Publizistin. Ihre Mutter Zelda Kowalski, geb. Nussboim, starb kurz nach ihrer Geburt. Ihr Vater, der Arzt Dr. Gabriel Kowalski, wurde etwa 14 Tage nach ihrer Geburt zusammen mit seiner Schwester Rachel Opfer des Holocaust. So durfte das Kind weder Vater und Mutter noch Tante kennen lernen. In Ermangelung von Familienfotos kannte sie noch nicht einmal deren Aussehen. Keren Kowalski wuchs in der Nähe von Goslar bei einer ehemaligen Hausangestellten ihrer Eltern auf. Dabei verbrachte ihre ersten drei Lebensjahre als „verstecktes Kind“ in einem Keller. Erst als junge Erwachsene erfuhr sie von der Ziehmutter ihre wahre Herkunft. Sie musste ihr Judentum erst kennenlernen. Somit weist der Vorname „Keren“, so hiess die dritte Tochter Hiobs, auf das Schicksal Magalls und das ihres eben wieder entdeckten Volkes Israel.
Später bezeichnete sie sich als „modern-orthodox“ und bekannte: „Das Judentum und die jüdische Gemeinschaft sind für mich die Quelle von Halt und Sinn.“ Das Bewusstsein einer jüdischen Holocaustüberlebenden prägte fortan ihr Leben. In Saarbrücken und Tel Aviv absolvierte sie eine Ausbildung zur Übersetzerin und Dolmetscherin für Englisch, Französisch, Hebräisch, Jiddisch und Spanisch. Danach arbeitete sie als Konferenzdolmetscherin, unter anderem in Israel und für die Europäische Union. Den Grossteil ihres Arbeitslebens verbrachte sie in Tel Aviv. Erst 1988 kehrte sie nach Deutschland zurück. Dort lebte sie von 1988 bis 2002 in Heidelberg (bis 2001 auch Vorstandsmitglied der dortigen Kultusgemeinde), 2002 bis 2010 in München, zuletzt 2010 bis 2017 in Berlin. Nachdem sich ihr Gehör während der letzten Lebensjahre merklich verschlechtert hatte, gab sie ihren Beruf als Konferenzdolmetscherin notgedrungen auf und widmete sich verstärkt ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Publizistin.
Magall übersetzte über 300 Bücher. Zu ihrem schriftstellerisch-publizistischen Oeuvre zählen eine jüdische Kunstgeschichte, Arbeiten zu Grundfragen der jüdischen Religion und Kultur, jüdische Städteführer, jüdische Kochbücher und belletristisch-autobiografische Romane, die sie zum Teil unter dem Pseudonym Rachel Kochawi veröffentlichte. Sie setzte sich intensiv mit Europas Verhältnis zum Judentum und dem Staat Israel auseinander und blieb bis zuletzt eine leidenschaftliche Kämpferin gegen den Antisemitismus.
Der vorliegende Titel O, Deutschland! Deine Dichter und Denker! beleuchtet oder besser bewertet schriftliche und mündliche Äusserungen deutscher Schriftsteller und Politiker sowie namhafter Kirchenvertreter über das Judentum und Israel. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Zeit nach Magalls Rückkehr nach Deutschland.
Der Inhalt im Detail: Prolog (S. 11-16); Einführung: Der moderne Antisemitismus (S. 17-18); Formen des modernen Antisemitismus (S. 19-21); Das Judenbild in der älteren deutschen Literatur (S. 22-25); Das Judenbild in der jüngeren deutschen Literatur (S. 26-29); Typologisierungen (S. 30-35); Romane über Juden (S. 36-57); Romane über jüdische Geschichte – Juden im Mittelalter (S. 58-67); Juden zur NS-Zeit und danach (S. 68-80); Deutsche Schriftsteller zu Besuch in Israel (S. 80-109); Vom Umgang deutscher Schriftsteller mit jüdischen Autoren (S. 110-124); Deutsche Politiker und ihr Bild von Juden und von Israel (S. 125-151); Was die Kirchen in Deutschland zu Juden und zu Israel zu sagen haben (S.152-171); Epilog (S. 172-173); Quellen und Literatur (S. 174-177); Personenregister (S. 178-182); Gesamtverzeichnis Verlag Edition AV (S. 184-194).
Die Publikation enthält thematisch typisierte Texte und Analysen. Magalls Analysen erfolgen allerdings vom Standpunkt einer jüdischen Publizistin und Holocaustüberlebenden und nicht immer mit einer wissenschaftlich-kritischen Distanz. Trotzdem oder gerade deshalb sind ihre Wertungen von besonderem Interesse. Erwartungsgemäss beurteilt sie z. B. die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers (1483-1546) aus einer judaistischen Perspektive (S. 24-25 u. 161-165), ebenso die den Juden zugeschriebenen Stereotypen: Der ewige Jude; Der Wucherer und Schacherer; Die jüdische Sexualität; Der jüdische Körper; Die jüdische Sprache: das Mauscheln; und Die Jüdin (S. 30-35).
Das Buch ist ein Denkmal für Magalls Beharrlichkeit und Standpunkttreue. Es beinhaltet zudem ihre persönliche Abrechnung mit der – aus ihrer Sicht – angepassten, arroganten, linken bis linksliberalen Kaste deutscher Schriftsteller und Intellektueller. Das Büchlein ist zugleich Zeugnis von Kränkungen, die Magall durch ihre Schriftstellerkollegen, von denen sie offenbar nie so richtig ernst genommen worden war, erfahren hatte. Unverbrüchlich und kompromisslos, beleidigt, mitunter auch beleidigend, hält die streitbare Dame an ihren Standpunkten fest. Mit ihrer Kompromisslosigkeit eckt sie immer wieder an, provoziert durch die Eindimensionalität ihrer Argumente.
Für viele europäische Schriftsteller und Intellektuelle gehört Israelkritik mehr oder minder zum guten Ton; vorbehaltlose Rechtfertigung der restriktiven Palästinenserpolitik des Staates Israel wird als unreflektiert oder faschistoid interpretiert. Magalls Buch offenbart einen grundlegenden Gegensatz zwischen dem relativierenden Zugang einer europäischen Schriftstellergeneration zum Staat Israel und einer Holocaustüberlebenden, für die der jüdische Staat den einzigen Garanten für das Überleben des Volkes Israel bedeutet. Gegenüber Holocaustüberlebenden stösst „westliche“ Intellektualität mit ihren Konzepten der Vergangenheitsbewältigung und ihren kritischen Ansichten gegenüber dem Staat Israel mitunter an ihre Grenzen.
Ausführlich befasst sich Magall mit Günter Grass (1927-2015). In dessen Novelle Im Krebsgang (2002) sieht sie ein Beispiel für das ihrer Meinung nach systematisch gegen Juden in Stellung gebrachte Prinzip der Opfer-Täter-Umkehr. In dessen Autobiographie „Das Häuten der Zwiebel (2006) findet Magall reichlich Stoff für kritische Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis des Günter Grass zu Israel und dessen späten Outing seiner jugendlichen NS-Begeisterung (S. 46-52).
Die mainstreamige Lauheit und Selbstgefälligkeit deutscher Schriftsteller in einer intellektuellen Wohlfühlzone ist eine von Magalls Schlüsselbotschaften. Sie findet der Leser im Kapitel „Vom Umgang deutscher Schriftsteller mit jüdischen Autoren“ (S. 110-124) bzw. im Unterkapitel „Aus dem deutschen Schriftstellerverband gemobbt“ (S. 117-124).
Magall berichtet darin, wie sie 2005 in München von Lesungen der Initiativen „Patenschaften für verbrannte Bücher“ und „Brandloch“, bei denen man Texte von unter den Nazis verbrannten Büchern präsentierte, ausgeschlossen wurde. Somit seien diese Veranstaltungen – wie sie sagt – „judenrein“ gewesen (S. 112-115). Sie berichtet ferner über die Abschlussveranstaltung der „Patenschaften für verbrannte Bücher“ 2013 in Berlin, bei der anscheinend das Thema Holocaust (wieder einmal) ausgeblendet worden war und ihr die genervten Kollegen unwillig zuriefen: „Man kann doch nicht ständig über die toten Juden weinen.“ (S. 115-118).
Ausführlich erzählt sie, wie sie sich im Zuge der Günter-Grass-Affäre aus dem deutschen Schriftstellerverband gemobbt fühlte (S. 117-124). Magall hatte sich mit scharfen Worten gegen das vom Mainstream deutscher Schriftsteller bejubelte antiisraelische Gedicht des greisen Nobelpreisträgers mit Waffen-SS-Vergangenheit gewendet. Dadurch provozierte die Aussenseiterin israelkritische Statements ihrer Schriftstellerkollegen. Magall wiederum beklagte die zustimmenden Kommentare führender EU-Politiker zu israelkritischen Äusserungen des Palästinenserführers Mahmut Abbas. In diesem Tenor hielt sie ihre Kolleg/innen mit permanenter E-Mail-Korrespondenz auf Trab, – von beiden Seiten nicht immer mit sachlichen Argumenten geführt. Unter anderem wurde ihr „pathologisch anmutende Islamophobie“ vorgeworfen (S. 122). Schliesslich liess sie sich aus dem E-Mail-Verteiler des deutschen Schriftstellerverbandes streichen. Darauf wurde ihr geantwortet: „Schön, dass Sie gehen!“ (S. 124).
Miriam Magall war undiplomatisch, kompromisslos, schwierig und mühsam. Manchen in ihrer Zunft fiel es nicht leicht ihr gegenüber Verständnis und Toleranz aufzubringen. Dennoch bleibt zu hoffen, dass diese kantige Publizistin nicht primär als „Nervensäge“ in Erinnerung bleibt, sondern vor allem als verdienstvolle Kämpferin gegen Antisemitismus und als unermüdliche Mahnerin gegen das Vergessen.
Christoph Tepperberg
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