Im Burgenland entlang der ungarischen Grenze existierten jahrhundertelang blühende jüdische Gemeinden. Besonders bekannt waren die sogenannten „Sieben-Gemeinden“ Eisenstadt, Mattersdorf, Lackenbach, Deutschkreutz, Frauenkirchen, Kobersdorf und Kittsee. Hier schuf die orthodoxe Bevölkerung sich dauerhafte soziale Strukturen und Thora-Lernzentren, die es den Gemeinden ermöglichten, ihren religiösen Charakter bis zur Zerstörung durch die Nazis im Jahr 1938 zu bewahren.
Die Synagoge in Kobersdorf, Aussenansicht heute.
Auf Initiative des Vereins „Wir erinnern – Begegnung mit dem jüdischen Mattersburg “ wurde von der Stadtgemeinde Mattersburg der Weg entlang der Wulka nach Samuel Ehrenfeld, dem letzten Rabbiner der Stadt, benannt.
Eines der ältesten jüdischen Gebäude in der Michael Koch-Strasse in Mattersburg.
Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge in Kittsee
Esterhazy: Schutz gegen Bezahlung
Die ersten Dokumente über die Sieben-Gemeinden stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Die Juden kamen und gingen, liessen sich nieder und wurden vertrieben, und hatten besonders unter den zahlreichen regionalen Kriegen zwischen den österreichischen Machthabern und den ungarischen Königen zu leiden. Erst im 17. Jahrhundert, als der Landstrich unter den Schutz des mächtigen Hauses Esterhazy geriet, konnten die Gemeinden sich fortlaufend entwickelt.
Den Wiener Juden war es verwehrt, sich in Gemeinden zu organisieren, und die ungarischen Juden lebten verstreut und versprengt und waren allein deswegen vom Gemeindeleben ausgeschlossen. Doch die Juden der Sieben-Gemeinden hatten das Glück, schon damals in geographischer Nähe zueinander und gut organisierten Gemeinwesen zu leben. Im Schutzbrief der Fürsten Esterhazy wurde ihnen – gegen Zahlung hoher Steuern und gelegentlicher Gaben an die Fürstenfamilie – gestattet, ihre eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung von aussen zu regeln, desgleichen wurde ihnen Schutz in Kriegszeiten zugesichert. So konnte sich in diesen Orten schon seit Beginn des 18. Jahrhundert ein reges Gemeinde leben entwickeln, das seinen Ausdruck in freiwilligen oder offiziellen Institutionen mit karitativen und erzieherischen Zielen fand.
Schneider, Schlachter, Viehhändler
Sie errichteten Synagogen, Mikwaot (rituelle Tauchbäder) und Friedhöfe. Die Gemeinden waren auch für die jüdischen Schulen verantwortlich, für die Chewra Kadischa (Beerdigungsinstitut) und für Wohlfahrtsvereinigungen. Jede der Gemeinden beschäftigte einen Rabbiner, einen Dajan (Rabbinatsrichter), einen Schächter und Kaschruthüberwacher, einen Chasan (Vorbeter) und einen Schamasch (Synagogendiener). Ausser Grundschulen, in denen allgemeine Fächer unterrichtet wurden, gab es Talmud-Thora-Schulen (auch “Cheder“ genannt) und Jeschiwot
Die Juden verdienten ihr Brot mit Handel, aber auch als Handwerker, es gab unter ihnen Glaser, Bäcker, Maler, Schuster und Schneider. Die Einkünfte waren spärlich, und viele sahen sich gezwungen, als fahrende Händler durch die Lande zu ziehen. Wohlhabende gab es nur wenige. Die geographische Nähe zu Wien, einem Zentrum humanistischer europäischer Kultur, brachte die deutsche Sprache in die Gemeinden und ebnete der säkularen Bildung bis hin zum Hochschulstudium den Weg.
In den Burgenland-Gemeinden bildete sich eine eigene Lebensform heraus; man bewahrte seine religiöse Identität, den religiösen Lebensstil und die Thora-Gelehrsamkeit. Parallel dazu fand sehr wohl eine kulturelle Öffnung statt, man erwarb Allgemeinbildung und gliederte sich auch in die nicht-jüdische Gesellschaft und Kultur ein.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die jüdische Bevölkerung stark an, denn sie unterlag keinen offiziellen Beschränkungen. Nie hatten mehr Juden im Burgenland gelebt. Bei einer Volkszählung wurden mehr als 8.500 jüdische Bürger gezählt. In Wien lebten damals 15.000 Juden. In einigen Burgenlandgemeinden machten die Juden mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus.
Auch Herzl stammte von dort
Im Zentrum der Gemeinden standen die Synagogen, äusserlich eindrucksvolle Gebäude mit oft prächtiger Innenausstattung. Standort und Grösse zeigen den hohen Stellenwert an, den die Synagoge im Leben der Gemeinde einnahm
Die Jeschiwot des Burgenland waren für ihr hohes Niveau bekannt und zogen Schüler aus den benachbarten Ländern an. Diesen Umfeld entsprangen hervorragende Thoragelehrte und weltweit anerkannte geistige Autoritäten, es seien hier nur der Maharam, Chatam Sofer und Dr. Asriel Hildesheimer genannt. Neben den bekannten Rabbinern brachten diese Gemeinden auch berühmte Künstler und Politiker hervor: der Komponist Karl Goldmark stammt von hier, der Politiker Julius Deutsch, der Schauspieler und Tänzer Fred Astaire, der Politiker Leon Blum, Theodor Herzl, der Dramatiker Arthur Schnitzler u.a.m.
In den Sieben-Gemeinden blühten Jüdische Festsitten und Gebräuche; Hochzeiten wurden freudig begangen: Gemeindemitglieder holten den Bräutigam und die Braut von ihren Häusern ab und führten sie zum Synagogenplatz, wo die Chuppa stand und lokale Musiker für die Gäste aufspielten. An den Purimumzügen beteiligte sich die ganze Gemeinde; man zog kostümiert von Haus zu Haus und liess sich bewirten.
Der alte jüdische Friedhof in Eisenstadt.
Ein Gedenkstein erinnert an die ehemalige Synagoge in Mattersburg.
Die Sieben-Gemeinden als Versuchskaninchen
Den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg entsprechend wurde das Burgenland der Republik Österreich zugeschlagen.
Nachdem Nazi-Deutschland im März 1938 in Österreich einmarschierte und es annektierte, wurde am Beispiel Burgenland die neue Politik der systematischen Zwangsvertreibung vorexerziert. Sofort nach dem “Anschluss” regierte dort der Terror.
Den Einwohnern wurde als ersten in Österreich befohlen, ihre gesamte Habe abzuliefern und eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie auf ihren Besitz verzichteten.
Lebensmittel verknappten sich, die Bewegungsfreiheit wurde drastisch beschränkt; die jüdischen Bewohner mussten sich verpflichten, den Boden des Dritten Reichs innerhalb kurzer Zeit zu verlassen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, wurden viele verhaftet, geschlagen und gefoltert. Die Vertreibung ging in jeder Gemeinde in einem anderen Rhythmus vor sich, doch waren innerhalb kürzester Zeit alle 3.500 jüdischen Bewohner aus dem Burgenland verschwunden. Nur ein Teil wanderte in andere Länder ab. Wem dies nicht gelang, der blieb in Wien und endete in den Vernichtungslagern.
Die Jahrhunderte alten Gemeinden waren ausgelöscht. Doch ausgerechnet in Eisenstadt errichteten die Österreicher 1972 das erste jüdische Museum nach dem Krieg.
Alle Abbildungen: M. Stankiewicz, mit freundlicher Genehmigung.