Ausgabe

„Ich hatte keine Vorstellung davon, dass ich nicht mehr hierher gehöre und auch sonst nirgends hin“

Alexander VERDNIK

Jüdische Klagenfurter erinnern sich

 

Inhalt

Bereits 93 Jahre zählte Gerhardts Interviewpartner Fred Reinisch bei ihren Gesprächen über dessen bewegte Vergangenheit. Darin berichtet er vom Schicksal der jüdischen Jugend in seiner Heimatstadt Klagenfurt vor und nach dem Novemberpogrom 1938 und von den beginnenden Diskriminierung der mosaischen Schüler.  Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er als britischer Besatzungssoldat nach Kärnten zurück. Reinisch, der erst in New York und dann in Florida sein Zuhause gefunden hat, besuchte seine alten Klagenfurter Freunde bis zur Vollendung seines 90. Lebensjahr alljährlich.  Er spricht nach all den Jahren noch im Kärntner Idiom.

Die ersten Begegnungen mit Antisemitismus widerfuhren dem 1921 Geborenen in der Klagenfurter Benediktinerschule: Ich wurde strenger bestraft, das Lineal des Lehrers landete härter auf meiner Hand und bei  Ausflügen und dergleichen wurde ich manchmal ausgeschlossen. Allerdings muss ich gestehen, dass mir das nicht viel ausmachte. Meine Mitschüler fanden das alles gänzlich normal und auch dachte ich mir: „So ist es eben“.

Bei  ihren Recherchen wurde Ilse Gerhardt darauf aufmerksam, wie wichtig der nahegelegene Triester Hafen für die Kärntner Juden in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ bei ihren Fluchtvorhaben war. Auch Esther Schuldmann, die  als Erna Zeichner in  Klagenfurt geboren wurde, war  mitsamt ihrem Vater Moritz die Flucht nach Palästina gelungen. Gutbürgerlich, so Schuldmann in ihren Erinnerungen,  ist für mich ein  Fremdwort geworden; ich habe das Gefühl des Provisoriums , einer Art Partisanentum, des Fehlens eines festen Bodens beibehalten, wohl nicht immer im gleichen Masse empfunden, aber nie ganz abgestreift.

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Fred Reinischs erster Schultag. Mit freundlicher Genehmigung des kitab-Verlages

 

Kurt Perlberg, der 1919 in der Kärntner Landeshauptstadt geboren wurde, war der Sohn des Bankdirektors Karl Perlberg, der in den 1920ern zu den Honoratioren Klagenfurts zählte. In Gerhardts Buch schildert Kurts Sohn Daniel, der 1947 in Haifa geboren wurde, das Schicksal der Familie Perlberg zur NS-Zeit und ihre Flucht nach Erez Israel. 2013 begab er sich in die Stadt, aus der sein Vater und seine Grosseltern vertrieben wurden: Mein Grossvater hielt sich während des Novemberpogroms geschäftlich in Wien auf.  So erlebte er nicht mit, wie seine Wohnung in der Radetzkystrasse von Nazihorden gestürmt und zerstört wurde. Die Einrichtung flog aus den Fenstern, auch Geschirr und diverse Kostbarkeiten und Erinnerungsstücke. Die Vandalen interessierten sich nur für Opas Jagdausrüstung und besonders für die Gewehre , die sie samt und  sonders gestohlen haben. Mein Vater, der zufällig in Klagenfurt weilte, wurde sofort verhaftet und nach Dachau deportiert. Oma hat sehr viel Geld bezahlt, damit mein Vater entlassen wurde. Damals, 1938,war das noch möglich.

Im letzten Abschnitt des Buches berichtet der Feldkirchner Siegfried Kernberger über das Schicksal des jüdischen Anwaltes Dr. Josef Haller, der sein Haus zum Schleuderpreis verkaufen musste. Des Weiteren erzählt er von dem Gemischtwarenhändler Julius Gruber, dem es mit seiner Familie gelang über den Trister Hafen nach Venezuela zu fliehen. Die Angstschreie zweier jüdischer Nachbarinnen sind ihm ein Leben lang in Erinnerung geblieben. Professor Egon Wucherer, 1917 geboren, berichtet, wie sein Schulkollege Norbert Fischbach von einem Tag auf den anderen plötzlich „verschwand“.

Als die Kärntner Jüdinnen und Juden in den 1930ern immer stärker mit dem aufkeimenden Judenhass konfrontiert wurden, legten sie sich verschiedene Strategien für Gegenmassnahmen zurecht. Solche Reaktionen auf nationalsozialistisch-antisemitische Agitation waren einerseits Vereinsgründungen zum Zwecke öffentlicher Beweisführung, Verstärkung der Assimilation bzw. Akkulturation, Annäherung an die Vaterländische Front (von der man sich einen gewissen Schutz erhoffte) andererseits aber auch das Ignorieren von Repressalien und der Rückzug ins Private. Die am 10. November 1922 gegründete Kärntner Israelitische Kultusgemeinde konnte sich nach der Schoah nicht wieder etablieren. Zu gering war die Anzahl der Jüdinnen und Juden, die eine Rückkehr nach Kärnten in Betracht zogen. Daher wurde die jüdische Gemeinde Kärntens in die IKG Graz integriert, wie dies bereits vor 1922 der Fall war. Der Holocaust hatte einem vitalen jüdischen Leben österreichweit ein abruptes Ende gesetzt. Die Generation derer, die sich mit dem Umstand im „Land der Täter“ zu leben, arrangieren konnten, wählte eine unsichere Zukunft. Weder konnten sie voraussagen, ob die lange Tradition der Judenfeindschaft sich fortsetzen würde, noch ob und wie sich neues jüdisches Leben nach dem Zweiten Weltkrieg konstituieren könnte.

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Familienfest in Israel. Mutter Nathalie und Vater Kurt Perlberg, Daniel Perlberg und seine Schwester (vorne v.l.n.r.). Mit freundlicher Genehmigung des kitab-Verlages

 

Nicht einmal ein Fünftel der Vertriebenen kehrte nach Kärnten zurück. Die Rückkehr beschränkte sich auf Villach und Klagenfurt. In der Landeshauptstadt waren sowohl des Bethaus der Chewra Kadischa wie auch der Friedhof in St. Ruprecht bombenbeschädigt. Auf Grund des Geldmangels konnten die Gräber erst im November 1953 saniert werden. 1963 wurde der Friedhof renoviert. Einen gewissen Anspruch auf Selbstständigkeit erreichte man dadurch, dass man keinen Unterschied zwischen Chewra Kadischa und der Klagenfurter (Kultus)gemeinde machte. Mit dem Verein hatte man ein Dach geschaffen. Wortführer dieser inoffiziellen Kultusgemeinde war Emil Preis. Speziell junge Menschen hatten in ihren Zufluchtsländern eine neue Heimat gefunden oder beteiligten sich am Aufbau des im Entstehen befindlichen Staates Israel, was den geringen Prozentsatz der zurückgekehrten Zionisten erklärt. Am ehesten fanden jene wieder eine Heimat, die in ein Österreich nahes Land emigriert waren. Psychosoziale Muster wie identitätsstiftende Heimat und gefestigte Lebensarrangements führten sie in das „Land der Täter“ zurück. Diese Identitätsrealitäten liessen den wenigen Zurückgekehrten die Option für ein demokratisches Österreich offen. Ichr Glaube an eine gleichberechtigte Zukunft sollte noch oft auf die Probe gestellt werden.

Ilse Gerhardts Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungsarbeit im südlichsten Bundesland Österreichs. Es ist 2016 im kitab-Verlag erschienen.

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Karl Perlberg, der Klagenfurter Bankdirektor. Mit freundlicher Genehmigung des kitab-Verlages

 

Ilse Gerhardt ist Journalistin, Buchautorin und aktives Mitglied der österreichisch-israelischen Gesellschaft Kärnten. In ihrem Buch Überall und nirgendwo widmet sie sich den Erinnerungen jüdischer Klagenfurter.

 

Wilhelm Baum (Hg.): Überall und nirgendwo. Jüdische Erinnerungen an Klagenfurt. Klagenfurt: kitab-Verlag 2016.

127 Seiten, Euro 16,00.-

ISBN-13: 9783902878427