Ausgabe

PESSACH 5778/2018

Rabbiner Joel BERGER

Inhalt

Das Pessach-Fest hat viele Inhalte. Das bekannteste ist das Wunder des Auszuges aus der Knechtschaft Ägyptens. Die versklavten Israeliten wurden von Moses auf Geheiss G-ttes aus der Fronarbeit der Ägypter in die Wüste herausgeführt.

Inhalte eines Festes können im Laufe der Geschichte verblassen. Diejenigen aber, die uns die Freiheit weisen, wollten wir für immer bewahren. Schliesslich bildet Pessach das nationale Fundament des jüdischen Volkes. Ebenso aber weist das Fest auf den Bund zwischen dem Volk, seinem Land und seinem Herrn hin.

Den treffenderen Namen „Chag Hamazot“, „Fest der ungesäuerten Brote“, verdankt dieser Feiertag dem Verbot der Tora, während der sieben Tage des Festes Gesäuertes zu sich zu nehmen. In der Diaspora sind es sogar acht Tage. Geboten ist am ersten Festabend Matzen, aus Weizen und Wasser gebackene Fladenbrote, zu essen. Dies zum Andenken daran, dass unsere Vorfahren, als sie aus Ägypten auszogen, ihre letzte Mahlzeit dort in aller Eile verzehrten.

Dem Auszug, der Befreiung unserer Ahnen aus Ägypten, huldigen wir nicht deshalb Jahr um Jahr und sogar an jedem Schabbat in der Liturgie des Tages, weil es sich um ein geschichtliches Faktum im Sinne eines einmaligen Geschehens handelt. Diese Befreiung einer Gruppe von Sklaven aus einer ägyptischen Provinz ist nicht nur eine historische Episode, sondern sie gewann Modellcharakter. Über diesen meinte Martin Buber, dass der „G-tt der Leidenden“, der Erniedrigten und Beleidigten sich erbarmt, und diese aus der Drangsal in die Freiheit führt.  Die Erlebnisse der Israeliten, die diese Art von Unterdrückung in jeder Generation erlebt haben und noch erleben, lassen den Exodus mit seiner historischen Einmaligkeit zum Leitbild aller Zeiten werden.  

Die Frage bleibt noch:  Warum benötigt man dazu die Matzen anstelle des Brotes? Die Antwort finden wir im zweiten Mosebuch, Schemot, das wegen seines Inhaltes in nichtjüdischen Kreisen auch „Exodus“, „Auszug“ genannt wird:  „Aus dem Teig, den die israelitischen Sklaven beim Auszug aus Ägypten mitgenommen hatten, backten sie ungesäuerte Brotkuchen, denn der Teig war nicht gesäuert, (d.h. es fehlte ihm an Sauerteig oder Hefe) da sie von den Ägyptern hinausgetrieben worden waren und nicht länger säumen und keine Wegzehrung für sich bereiten konnten.“ (2.B.M. 12:39)  Wäre das alles? Nur die Hast des Auszuges beschert uns bis heute die Mazen? Nein, selbstverständlich nicht.  Der volkstümlichste aller Bibelkommentatoren, RASCHI, ein Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (geboren 1040 in Troyes; gestorben am 5. August 1105 ebenda), der Rabbiner und massgebliche Kommentator des Tanach und Talmuds, der in Worms studiert hatte, schrieb: „Dass sie keine Wegzehrung vorbereitet haben, das verkündet das Lob Israels. Sie sagten nicht:  Wie könnten wir ohne Wegzehrung in die Wüste ziehen? Sondern sie vertrauten auf die Fürsorge G-ttes und gingen.“  Dieses Vertrauen auf G-tt beeindruckte auch den Propheten Jeremia.  Er schrieb: „Ich gedenke der Holdheit deiner Jugend und der Liebe deiner Brautzeit (personifizierend auf das Volk der Israeliten gemünzt), da du mir folgtest in die Wüste ins unbesäte Land…“  (Jer. 2: 2-3) Demnach also ein Symbol der Freude und des G-ttvertrauens der Urzeit:  die Mazza.  Es trifft also auch auf die Mazza zu, was die Haggada, das Büchlein für den Sederabend aussagt: „Je mehr einer über den Auszug zu erzählen weiss, umso lobenswerter ist es…“

Dieses Fest wird nicht nur vom Verzehren des ungesäuerten Brotes geprägt. „Du sollst es deinem Sohne erzählen an jenem Tage“ – lernen wir aus dem zweiten Mosebuch (13:8).  Also, es wird an den ersten zwei Abenden des Festes beim weiss gedeckten Tisch über den Auszug der Ahnen, über den Weg von der Knechtschaft in die Freiheit erzählt.  Auch hier trifft es zu, was der liberale Rabbiner Ben Chorin schrieb  (Narrat. Theol. 16): „Dieses Erzählen ist mehr als ein Erinnern an einen Vorgang,  der sich vor etwa 3500 Jahren abspielte…“  Während eines Festmahls so zu erzählen, dass alle Tischgenossen die gleiche Geschichte mit all ihren Untertönen wahrnehmen, ist nicht leicht. Ein so „kompliziertes Ritual“ kann ohne „Textbuch“ kaum durchgeführt werden.  Aus diesem praktischen Bedürfnis her, „entstand“ die Haggada für die Pessach-Nacht.

Das nächtliche Festmahl, das den Rahmen für die Erzählung der Heilsgeschichte aus dem Büchlein Haggada bildet, wird Seder, auf Deutsch:  „Ordnung“, genannt.  All das, was man verzehrt und auch wie man es tut, muss seine Ordnung und seine Richtigkeit haben.  Die Speisen an diesem Abend, die so eng mit dem Kult des Erzählens, Gedenkens und Feierns verbunden sind, bilden ebenfalls häufig symbolische oder „Kultspeisen“.  Sie alle sind auf der Sederschüssel platziert. Zu allererst sind hier drei Stück Mazzabrote zu erwähnen.  Des Weiteren ein Gemisch aus Äpfeln, Nüssen, Zimt  und süssem Wein, das an den Mörtel erinnert, mit dem die israelitischen Sklaven ihre Bautätigkeit verrichten mussten. Auch das Salzwasser, das an ihre Tränen des Leids erinnert, darf an diesem Abend nicht fehlen, sowie Bitterkraut, das uns an die Bitternis der Sklaverei erinnern soll.  An das Lamm, das die Vorfahren am Abend vor dem Auszug in aller Hast verzehrten, weist ein gerösteter Knochen hin. Vier Gläser Wein werden an diesem Abend getrunken. Dies als Erinnerung an jene vier Ausdrücke der Erlösung der Israeliten im zweiten Mosebuch (6:6-7): „Ich bin der Herr und will euch ausführen von euren Lasten in Ägypten und will euch erretten von eurem Frönen und will euch erlösen durch ausgereckten Arm .. und will euch annehmen zum Volk und will euer G-tt sein…“  Die Mahlzeit selbst beginnt man mit einem hartgekochten Ei.  Die freien, römischen Bürger pflegten nämlich zu Anfang ihrer „lukullischen Mahlzeit“ ein Ei zu verspeisen.  Der lateinische Ausdruck „ab ovo“, vom Anfang an, im Sinne von Anbeginn an, erinnert uns an ihre Sitte. Deshalb demonstrieren wir Juden an diesem Mahl der Freiheit, dass wir den freien Bürgern Roms ebenbürtig sind.  Eine weitere Demonstration unserer Freiheit an diesem Abend: das Trinken des Weines und das Essen mancher Kultspeisen, während man sich an Kissen anlehnt, wie freie Bürger in der Antike dies taten.