Ausgabe

„G-tt ist immer gegenwärtig. Die Frage ist – wie gegenwärtig sind wir?“

Domagoj AKRAP

Zalman Schachter – Shalomi (1924-2014)

 

Inhalt

Rabbi Zalman Schachter – Shalomi ist, anders als sein zeitweiliger Kommilitone Shlomo Carlebach, hierzulande so gut wie unbekannt, und das obwohl er prägende Jahre seiner Kindheit und frühen Jugend in Wien verbracht hat. Im Gegensatz zum „singenden Rabbi“ begründete Schachter – Shalomi eine neue Strömung im amerikanischen Judentum, die heute als die innovativste innerhalb des progressiven Judentums gilt.

Geboren wurde Zalman Schachter am 24. August 1924 im galizischen Städtchen Zolkiew / Žowkwa (heute Ukraine). Beide Eltern waren galizische Juden, verbunden mit den Belzer Hasidim. Als Zalman ein Jahr alt war, zog die Familie, vor dem Antisemitismus fliehend, in das vermeintlich sichere Wien. Die Eltern sprachen nach ihrer Übersiedlung ausschliesslich Deutsch mit ihren Kindern. Jiddisch wurde nur noch gesprochen, wenn man nicht wollte, dass die Kinder das Gespräch verstehen. Obwohl aus einer hasidischen orthodoxen Familie stammend, wurde Zalman zunächst in eine öffentliche Schule geschickt. Dies war “their well-meaning attempt to help spur my successful assimilation into wider Austrian society”. Als sich die finanzielle Lage der Eltern besserte, konnte Zalman das anerkannte Wiener jüdische Dr. Chajes Gymnasium besuchen. Da die Schule überwiegend von Kindern aus säkularen Häusern besucht wurde, seinem Vater aber daran lag, dem Sohn auch eine fundierte orthodoxe  Bildung zukommen zu lassen, schickte er ihn zusätzlich in eine religiöse Nachmittagsschule. Bereits in jungen Jahren fasziniert von jüdischer Musik, schloss sich Zalman dem Chor des Polnischen Tempels an. Im August 1937 erhielt er in Bad Vöslau seine Bar Mitzwa. Danach wechselte er in die Israelitische Hauptschule in die Malzgasse und am Nachmittag besuchte er die orthodoxe Jeschiwe „Yesode ha-torah“, wo er trotz der dort herrschenden kalten und autoritären Atmosphäre das Talmudstudium gemeistert hat. In seiner Freizeit besuchte er die zionistische Jugendorganisation Brit-BILU und las leidenschaftlich Karl May Romane, für die er, um sie zu Hause lesen zu können, sogar „krank wurde“.

Mit dem „Anschluss“ brach das geordnete Leben der Familie Schachter in wenigen Tagen auseinander. Die Schrecken des Novemberpogroms konnte der damals 14-jährige aus dem Fenster des Rothschildspitals beobachten, in das er wegen einer Blinddarmoperation zwei Tage zuvor eingeliefert wurde. Sein Vater Schlomo Schachter wurde am nächsten Tag als polnischer Staatsangehöriger von der Gestapo verhaftet und zur polnischen Grenze gebracht. Der Vater konnte während der Fahrt fliehen und auf Umwegen wieder illegal nach Wien zurückkehren. Spätestens  jetzt wusste die Familie, dass es höchste Zeit war Wien zu verlassen. Über Köln gelangte die Familie mit Fluchthelfern an die belgische Grenze. Die Familie siedelte sich  zunächst in Antwerpen an, wo Zalman im Juweliergeschäft Beschäftigung als Diamantenschleifer fand. Dort lernte er auch den Chabad-Hasidismus kennen. Er engagierte sich intensiv in der Chabad-Gemeinde, die ihn in den folgenden Jahren stark prägen wird, und die Monate in Antwerpen zu seinen, wie er später schrieb, fröhlichsten Momenten werden liess. Im Mai 1940 musste die Familie vor der Naziinvasion Belgien verlassen und zog nach Südfrankreich. Nach etlichen Monaten in französischen Internierungscamps, bekam die Familie zu Rosch ha-schanah die Nachricht übermittelt, dass ihr Einreisevisum für die USA in Marseille bereit liegt. In Marseille ereignete sich ein folgenschweres Treffen. Zu Tu bi-shvat lernte Zalman Menachem Mendel Schneerson, den künftigen siebenten Chabad Rebbe, kennen. Seine Predigt und Auslegungen prägten sich beim jungen Zalman so stark ein, dass er Jahre später in den USA den Rebbe aufsuchen wird. Im April 1941 erreichte die Familie endlich die Freiheit – das Schiff legte in St. Thomas auf den Jungfraueninseln an.

Zalman Schachter übersiedelte nach New York, wo er mit Hilfe eines Wiener Schulfreundes sofort Rabbi Yosef Yitzchak Schneersohn aufsuchte. Unter dem Vorwand, er übermittle dem Rebben Grüsse seines Schwiegersohns aus Marseille, erhielt er Zutritt. Später wird er den beiden Begegnungen seinen spirituellen Wandel zuschreiben. Seit 1942 studierte er regelmässig an der Lubavitcher Jeschiwe. Zalman Schachter wurde einer der ersten Shelihim (Gesandten), die von Chabad ausgesandt wurden, um nach den Schrecken der Shoah Zentren jüdischen Lernens aufzubauen und der Religion entfremdete Juden wieder stärker an religiöse Traditionen zu binden. 1947 wurde er zum Rabbiner ordiniert und erhielt zunächst den Auftrag eine Religionsschule in Rochester (New York) zu leiten. Gemeinsam mit Shlomo Carlebach, den er aus Wien flüchtig kannte, wurde er persönlich vom sechsten Rebben kurz vor dessen Tod, beauftragt, jüdische Jugendarbeit („Outreach“) an den Colleges zu leisten.

In den folgenden Jahren machte Zalman Schachter Erfahrungen mit Parapsychologie. 1952 lernte er auf einer Reise nach Haiti Voodoo-Rituale kennen, die ihn stark beeindruckten und sein Wissen um die Möglichkeiten mystischer Erfahrungen erweiterten. Nachdem er 1956 seinen MA in Religionspsychologie an der Boston University erlangte, erhielt er eine Stelle am Departement für jüdische Studien an der Manitoba University in Winnipeg. Während dieser Jahre suchte Zalman Schachter immer wieder nach Wegen, jüdische Traditionen zu beleben und in den Dienst einer geistigen Erneuerung des spirituell leeren US-Amerikanischen  Nachkriegsjudentums zu stellen. Dabei schöpfte er aus der reichen hasidischen Schrifttradition und den mystischen Lehren der Kabbala. In den 60er Jahren begann sich Zalman Schachter verstärkt ökumenisch zu engagieren. Sein grundsätzliches Interesse an religiösen Erfahrungen brachte ihn in Kontakt mit katholischen Mönchen, diversen buddhistischen Meditationslehrern und, ganz im Geist der Gegenkultur der 60er, mit bewusstseinserweiternden Drogen. Allmählich begann er sich immer mehr vom engen Rahmen des Chabad-Hasidismus und seinem strickten hierarchischen Verhältnis zwischen Rebbe und Hasid zu entfernen. 1964 veröffentlichte er seinen ersten programmatischen Text mit seinen Ideen zur Erneuerung des jüdischen Lebens in den USA. Der Text enthält im Kern das Konzept der Havurot (Gemeinschaft, Bruderschaft), das allerdings erst etliche Jahre später im Zuge der Gegenkultur an Bedeutung gewinnen wird. Das Konzept sah Lern- und Betzirkel in einer Ashram ähnlichen Bruderschaft vor, in deren Rahmen die jüdische Spiritualität wieder stärker in den Fokus gerückt werden sollte. Die Havurot wurden vor allem als Gegenkonzept zu institutionalisierten, uninspirierten und geistig leer empfundenen Synagogen der herkömmlichen jüdischen Denominationen ins Leben gerufen. Die „zweite Welle des Neohasidismus“, deren populärste Vertreter Schachter – Shalomi und Carlebach waren, setzte bei den jungen Suchenden und ihrem Interesse an Spiritualität – jüdischer, wie fernöstlicher – an. Ganz im Zeitgeist begannen jüdische Jugendliche sich verstärkt von institutionalisierten jüdischen Gemeinden abzuwenden und begaben sich auf die Suche nach „authentischer“ religiöser Erfahrung. 1968 erhielt  Schachter – Shalomi vom Hebrew Union College (HUC) die Doktorwürde mit einer Arbeit zum Thema: The Yechidut: Counseling and the Hasidic Tradition. Im gleichen Jahr distanzierte sich die Chabad-Gemeinde auch formal von ihm, wegen eines Vortrages zum Thema „The Kabbalah and LSD“. 1968 verhalf er zur Gründung der ersten Havurah in Somerville, MA - Havurat Shalom, sowie dem 1974 ins Leben gerufenen Aquarian Minyan in Berkeley. Im selben Jahr vollzog er auch die erste Rabbinerordination. 1969 begründete er das B‘nai Or Religious Fellowship, eine dem New Age ähnliche jüdische geistige Gesellschaft, die den Kern der späteren Jewish Renewal Bewegung bildete. Ganz im Sinne seiner ökumenischen Spiritualität begann er auch Texte des islamischen Sufismus zu studieren, in denen er glaubte, zahlreiche Parallelen zum Hasidismus  zu entdecken. Sein vielleicht berühmtester Gesprächspartner in den vielen ökumenischen Gesprächen war Dalai Lama, das Oberhaupt des Tibetischen Buddhismus. Ab den 70ern widmete sich Zalman Schachter fast ausschliesslich dem Aufbau und der Entwicklung der Jewish Renewal Bewegung. 1993 veröffentlichte er unter dem Titel „Paradigm Shift“ die Sammlung seiner Artikel zur jüdischen Erneuerung. Darin fordert er neue Wege des Denkens zu beschreiten. Er bezeichnet mit dem Terminus eine metaphysische Neubewertung, ein in seiner metaphysischen Voraussetzungen revolutionäres Judentum. „Paradigm Shift Judaism’s revolutionary spirit … embodied in an entirely new metaphysical template built from Hasidism and Kabbalah, but it is in no way limited or bound to either“. Saul Maggid sieht darin einen „Post-Monotheismus“, wonach die Aussage des Monotheismus – „ein G-tt“ nun auch jene eines universellen Monismus – „alle G-tter sind eins“ – beinhaltet. Dadurch werden nichtjüdische Ausdrucksformen des Göttlichen nicht von vornherein ausgeschlossen und neben Israels besonderen Ausdruck G-ttes gestellt. Als Teil des „Paradigm Shifts“ muss auch das starke gesellschaftliche Engagement in den Jewish Renewal Gruppen gesehen werden, denn „Paradigm Shift Judaism does not produce any naive universalism, but it does enable Judaism to come out of its exclusivist cocoon and participate fully in the global concern for the well-being of the planet and all its inhabitants“.
Zalman Schachter war überzeugt mit der Integration von buddhistischer Meditation, christlichen und Sufi Gesängen, die Möglichkeiten des jüdischen geistigen Lebens zu erweitern. In tiefer Überzeugung, dass die diversen Religionen und ihre spirituellen Traditionen zwar verschieden, aber miteinander verwoben sind, gelangte er zu einem erweiterten jüdischen (Selbst)Bewusstsein. Bewegungen wie Öko-koscher, die nicht nur auf die biblischen Speisegebote, sondern im verstärktem Masse auch auf die Umstände, wie die Nahrungsmittel erzeugt werden, Wert legen (Art der Tierhaltung, Kinderarbeit u.a.), gehen auf Schachter – Shalomi zurück. Er blieb sein Leben lang ein unabhängiger Hasid, der die hasidische Tradition als eine der grössten spirituellen Errungenschaften nicht nur des Judentums, sondern des menschlichen Geistes überhaupt betrachtete. Mit seinen Konzepten bekam diese Richtung universelle Bedeutung.

  Zur Geschichte der Jewish Renewal Bewegung s. Shalom Groesberg: Jewish Renewal: A Journey ; the Movement’s History, Ideology and Future, New York [u.a.] 2008.

  Die Belzer Dynastie wurde am Anfang des 19. Jh. gegründet. Nach der Shoah, der ein Grossteil der Belzer Hasidim zum Opfer gefallen war, konnte die Dynastie in Israel wieder aufgebaut werden.

  S. Rabbi Zalman M. Schachter-Shalomi: My Life in Jewish Renewal. A Memoir, Lanham 2012, S. 10.

  Ebenda S. 17.

  Ebenda, S. 31.

  Yosef Yitzchak Schneersohn (1880-1950) wurde 1920 der sechste Chabad Rebbe. Sein Schwiegersohn Menachem Mendel Schneerson wurde nach dessen Tod als siebenter Rebbe sein Nachfolger.

  In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: “I began to focus on the drumming, trying to establish in my mind its compelling rhythm. I felt myself more and more absorbed by the beating drums, and they began to create a strange sense of opening within. I didn’t want to lose consciousness, but multiple paths started looming and diverging in my mind’s eye, and I felt myself becoming lost, lost, lost.” Schachter-Shalomi: My Life in Jewish Renewal, S. 84.

  Bei seiner ersten Reise nach Israel besuchte er hasidische Gruppen in Me‘ah She‘arim, deren ekstatisches Davenen (Beten) ihn stark beeindruckte. Ein Treffen mit Erich Neumann, einem nach Carl G. Jung arbeitenden Tiefenpsychologen, mündete in einer Analyse (vgl. ebenda, S. 113-120).

  Seine Erfahrung mit LSD beschreibt er detailliert in seinen Erinnerungen (ebenda, S. 141-154).

  Der Text trägt den Titel: „Toward an Order of B‘nai Or“ und wurde veröffentlicht in Jewish Tradition 1964,   nach: My Life in Jewish Renewal, S. 121f.

  Als erste Welle des Neohasidismus wird jener von Buber bezeichnet, den er mit seinen Nacherzählungen der hasidischen Geschichten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entfacht hat. In den 60ern waren es neben Schachter – Shalomi vor allem die englischen Übersetzungen der Schriften Bubers und die Schriften Abraham Joshua Heschels, die das erneute Interesse am Hasidismus in den USA auslösten.

  Die Dissertation wurde 1983 in etwas abgeänderter Form als Sparks of Light: Counseling in the Hasidic Tradition veröffentlicht.

  1986 änderte Schachter-Shalomi den Namen in das geschlechtsneutrale „P‘nai Or“ - Gesichter des Lichts. Nach einer weiteren Änderung erhielt die Vereinigung ihren derzeitigen Namen ALEPH: Alliance for Jewish Renewal (s. https://aleph.org/) Sie stellt die Dachorganisation der zum Jewish Renewal gehörenden Gemeinden dar.

  RodgerKamenetz‘ Buch „The Jew in the Lotus“ (1994) beschreibt die Reise einer Gruppe von Rabbinern verschiedener Denominationen, darunter auch Schachter-Shalomi, zu Dalai Lama. 

  S. Shaul Maggid: Between Paradigm Shift Judaism and Neo-Hasidism. The New Metaphysics of Jewish Renewal, in Tikkun Vol.30, No.1, 2015, S. 13.

  Ebenda. S. 20.