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Vom Schulabbrecher zum bundesdeutschen Minister

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Christian Y. Schmidt: Wir sind die Wahnsinnigen.
Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang
Verbrecher Verlag Berlin 2013
400 Seiten, Euro 18,50
ISBN 978-3-943167-30-6

Aus den USA kennt wohl jeder die berühmte Mär vom Aufstieg eines einfachen Menschen vom Tellerwäscher zum Millionär. Wer hat sich da nicht gewünscht, einmal die gleichen Chancen geboten zu bekommen? Dass man nicht unbedingt in die USA auswandern muss, um Ähnliches zu erreichen, das beweist die Lebensgeschichte eines Mannes, der es vom Schulabbrecher zum deutschen Spitzenpolitiker und bundesdeutschen Minister und bestens verdienenden Ex-Minister gebracht hat. Die Rede ist von Joschka Fischer.
Geboren wird Josef Martin Fischer, Sohn eines Metzgers, 1948 in Gerabronn; er wächst in Öffingen in der Nähe von Stuttgart auf. Joschka, wie wir ihn im Folgenden der Kürze halber nennen werden, hat in der 10. Klasse genug vom kleinbürgerlichen, kleinstädtischen Muff, schmeißt die Schule hin, beginnt eine Lehre bei einem Fotografen, schmeißt auch die Lehre hin  und beginnt mit der Erforschung der Welt. Das erste Mal schafft er es trampend bis nach Hamburg, das zweite Mal gar bis nach Kuwait. Nach der Heimkehr nach Schwaben versucht er sich noch einmal als Lehrling beim Fotografen, danach als Hilfssacharbeiter beim Arbeitsamt. Auch das wird hingeschmissen. Im Jahr 1968 trifft Joschka hoffnungsvoll in Frankfurt am Main ein.
Joschka verdient seinen Lebensunterhalt als „Bücherklau“; schnell macht er sich in der Szene einen Namen als der Typ, bei dem man an günstige Bücher kommt.  Aber Joschka tut auch etwas für seine Fortbildung. Er will mit dabei sein, wenn möglich, in vorderster Front der Studentenbewegung. Also vertieft er sich in die einschlägige Literatur, alles von Marx bis Hegel, um sich die für die Szene unumgänglich notwendigen Grundkenntnisse und den Jargon anzueignen. Joschka trainiert auch minutiös, wie man Reden hält, übt vor dem Spiegel die richtigen Gesten ein; denn er will große Menschenmengen begeistern. Gerne simuliert Joschka Wissen, über das er nicht verfügt. Aber wie er das tut, darin ist er kaum zu schlagen.
Einen weiteren Schnellkurs absolviert Joschka als Straßenkämpfer. Schon bald übernimmt er das Kommando einer größeren Anzahl von Genossen, die auf den Namen „Putzgruppe“ hören. Im Taunus übt Joschka mit bis zu 40 Leuten regelmäßig, um der prügelnden Polizei die Stirn bieten zu können. Einige Genossinnen, die anfangs mit dabei sind, verlassen die Putzgruppe schnell, denn ihre Gesundheit ist ihnen lieber als die Teilnahme am Straßenkampf. Und dabei bleibt es auch. Mit seiner Putzgruppe unterwandert Joschka anschließend die Spontimannschaft, die seit Anfang der 1970er Jahre jeden Samstag im Frankfurter Ostpark Fußball spielt. Auch da geht es eher rüde zu. Seine Ausbildung vervollständigt Joschka noch durch ein intensives Karatetraining. Unter Joschka entwickelt sich eine Fraktion des Revolutionären Kampfes zu einer militanten Männerbande; in diesem raubeinigen Verein ist für Frauen kein Platz.
Eine ganz besondere Stellung in Joschkas revolutionärer  Entwicklung nimmt Daniel Cohn-Bendit ein, der seine „linksradikale Biographie und sein Denken geprägt“ (S. 83) hat. 1973 beziehen die beiden sogar eine gemeinsame Wohnung. Für beide bringt diese Beziehung Nutzen, wobei Danny eher den ideologischeren Typ abgibt.
1973 beginnen die Kämpfe um besetzte Häuser in Frankfurt am Main. Joschkas Putzgruppe zeigt, was sie dank ihres Trainings im Wald bei ihm gelernt hat: Angriffe mit Steinen und schweren Eisenteilen, mit Latten, schweren Knüppeln und Bleirohren. Im Mai 1976 verliert die Putzgruppe und damit Joschka seine Unschuld. Ulrike Meinhoff wird im Gefängnis erhängt aufgefunden. Das ist der Anlass für heftige Demonstrationen, bei denen schließlich auch Molotow-Cocktails fliegen. Ein Polizeiwagen wird in Brand gesteckt, ein junger Polizist kann nicht schnell genug den Wagen verlassen. Er brennt „wie eine lebende Fackel“ (S. 103). Neben anderen unter Mordverdacht stehenden Demonstranten wird auch Joschka verhaftet, aber am Tag darauf frei gelassen. Die Haft geht nicht ohne Folgen an Joschka vorbei. Sofort löst sich die militante Vorhut der Revolution, seine Putzgruppe, auf.
Joschkas nächste Schritte führen ihn von der Dumpfheit eines Taxifahrers, als der er seinen Lebensunterhalt verdient, zu den Grünen; sie erscheinen ihm stärker, mächtiger und erfolgreicher als das, was er bisher gewohnt ist. Ende Juli 1981 wird Joschka Mitglied bei den Grünen, das ist sehr viel besser als Taxifahren. Gezielt bringt er seine ehemalige Putzgruppe in der Partei unter, bemüht sich nach Kräften, die „Fundis“ an den Rand, später völlig hinauszudrängen und stattdessen als guter „Realo“ eine Koalition mit der SPD einzugehen. Zwischen Oktober 1982 und Mai 1983 treten insgesamt 600 aus den ehemaligen Spontitruppen bei den Grünen ein. Sie sind da, um Joschka für einen guten Posten zu unterstützen. Wie ein guter Radfahrer umschmeichelt Joschka die Herren vom SPD-Vorsitz und tritt nach unten heftig gegen die Fundis der Grünen, um sie auszuschalten. Joschka hat Erfolg mit seiner Strategie: Innerhalb von nur zwei Jahren wird Joschka zum „ersten grünen Minister des Planeten“  (S. 212) im Landtag von Hessen. Das gibt ihm Gelegenheit, sich seinen alten Kumpel gegenüber dankbar zu erweisen. Und sie mit guten Posten und Pöstchen zu versorgen. Vom hessischen Landtag zieht es Joschka in die Bundespolitik. Im Herbst 1998 klappt es dann endlich: SPD und Grüne erhalten bei den Wahlen zum Bundestag eine stabile Mehrheit, Kanzler Kohl muss gehen. Seit Oktober 1998 gibt es eine neue rot-grüne Regierung – mit Joschka Fischer als Außenminister. Er hat es geschafft! Ist beliebt bei vielen, gilt als Pragmatiker. Großzügig fördert er seine Freunde und ehemaligen Weggenossen.
Als Joschka im November 2005 zugunsten von Frank Walter Steinmeier auf sein Amt verzichten muss, legt er im September im Jahr darauf auch sein Mandat im Bundestag nieder.
Aber niemand sollte sich Sorgen machen, ob denn Josef Martin Fischer Harz IV oder Grundversorgung beantragen muss. Er hat gut vorgesorgt und dürfte mit den Einnahmen aus seinen diversen Posten -- als Senior Strategic Counsel der Albright Stonebridge Group; bei seiner eigenen Consulting Group, die er 2009 zusammen mit dem Grünen Dietmar Huber gründet; seit 2009 als Berater von BMW und seit 2010 bei der Einzelhandelskette Rewe, einem weiteren Vertrag mit dem Energiekonzern RWE und mit Siemens – ein  recht akzeptables Auskommen haben, zumal er, durchaus standesgemäß für einen Ex-Minister, komfortabel in einer millionenschweren Villa im Berliner Ortsteil Grunewald wohnt.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Josef Martin Fischer ist „so etwas wie der Idealtypus derjenigen Achtundsechziger, die nach dem Ende der Revolte Karriere gemacht haben“ (S. 15). Vom Tellerwäscher zum Millionär.
Ein sehr kritisches, sehr aufmerksames Buch, das die Augen öffnet und den Sand vertreibt, der so manchem beim bloßen Wort „Grüne“ den romantischen Blick trüben könnte und auch sollte. Danke Christian Schmidt für diese offenen Worte!