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Der werfe den ersten Stein ...!

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Loewy, Ronny/Rauschenberger, Katharina (Hg.): „Der Letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975.
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 19
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2011
208 Seiten, 37 S/W-Abbildungen, Euro 24,90
ISBN 978-3-593-39491-6

Der Grund, warum dieser schon 2011 erschienene Titel noch einmal im Jahr 2013 größere Beachtung findet, ist die Tatsache, dass der jüdisch-französische Filmemacher Claude Lanzmann beim Filmfestival in Cannes seinen neuesten Film präsentiert, der den provokanten Titel trägt Le Dernier des Injustes, zu Deutsch: „Der Letzte der Ungerechten“.
Als solcher bezeichnet sich Benjamin Murmelstein in dem langen Interview, das Claude Lanzmann 1975 mit ihm führt, selbst. Murmelstein ist in Wien aufgewachsen und wird zum Rabbiner ausgebildet. Als 1938 der „Anschluss“ erfolgt, wird er Teil der jüdischen Administration und kommt schon sehr bald direkt mit Adolf Eichmann in Berührung. Murmelstein setzt sich nachdrücklich für die Belange von Juden ein und organisiert die Auswanderung vieler österreichischer Juden, darunter Zugtransporte noch in den Jahren 1940 und 1941. Dann kommt Murmelstein in das Konzentrationslager Theresienstadt, wird Anfang 1943 Mitglied im „Judenrat“, im November 1944 sein Vorsitzender.
Im Jahr 1963 veröffentlicht die Neue Zürcher Zeitung einen Briefwechsel zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt, in dessen Verlauf Arendt behauptet, „ohne jüdische Führung wären nicht so viele Juden ermordet worden. Scholem widersprach Arendts Attacken ... In einem Fall waren sich aber beide einig: in der Verurteilung von Benjamin Murmelstein“ (S. 35, 1. Absatz o). Scholem erwiderte: „Gewiss ... Murmelstein in Theresienstadt hätte ... verdient, von den Juden gehängt zu werden“ (ebda., 2. Absatz). Aber Benjamnin Murmelstein wehrt sich, in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung am 14.12.1963, ebenso wie in seinem Buch Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann (1961) und in dem langen Interview, das er 1975 Claude Lanzmann gibt, eigentlich für dessen Film Shoah; Lanzmann verwendet es dort jedoch nicht, sondern erst für einen eigenen Film, wie eingangs erwähnt, viele Jahre später (2013).
In „Der Letzte der Ungerechten“, wie Murmelstein sich selbst im Verlauf des Interviews mit Lanzmann nennt, erhebt sich die moralische Frage: Wie verhält man sich als Mitglied des Judenrats in einem NS-Konzentrationslager? Wer wagt es, den ersten Stein zu werfen auf jemanden wie Murmelstein, der als einziger Vorsitzender eines Judenrates am Leben geblieben ist – was einige ihm nicht verzeihen, s. die Kontroverse oben. Benjamin Murmelstein musste sich für seine Tätigkeiten in Theresienstadt in Leitmeritz / Tschechien vor dem Volksgericht verantworten, das Untersuchungsverfahren gegen ihn wurde jedoch am 3. Dezember 1946 eingestellt. Er ließ sich als freier Mann in Rom nieder.
Die Autoren lassen, außer ihren eigenen Beiträgen, weitere sieben Forscher zu Wort kommen, die sich speziell mit der Schoa, den Konzentrationslagern, den Judenräten und ihrer Rolle bei den Deportationen befassen und den Stand der Forschung beleuchten. Am Ende des Buches könnte der Leser zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen wie die Verfasserin dieser Zeilen: „Wer unschuldig ist, der werfe den ersten Stein“ – In biblischer Zeit mussten zwei Zeugen eine Untat bezeugen. Wurde der Täter zum Tode durch Steinigen verurteilt, mussten diese beiden Zeugen den ersten Stein werfen.
Ein Buch, das jede Leserin, jeden Leser in Gewissenskonflikte stürzen dürfte. Es ist ihm zu wünschen, dass es viele Leserinnen und Leser aufrüttelt und zum Nachdenken anregt.