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Die Israelitische Cultusgemeinde Zürich und ihre Bibliothek

Peter BOLLAG

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Die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) ist die grösste der jüdischen Gemeinden der Schweiz - und sie verfügt auch über die grösste und umfangreichste Bibliothek aller jüdischen Gemeinden im Lande. Doch genau über die Zukunft dieser Bibliothek wird zurzeit viel diskutiert.

Rund 35.000 Titel umfasst die wissenschaftliche Abteilung der ICZ-Bibliothek; dazu gehören unter anderem der Nachlass des Komponisten Max Ettinger und mehrere tausend Bände der Sammlung von Büchern in jiddischer Sprache. Verwaltet wird sie heute noch von drei Mitarbeiterinnen.

Dass eine jüdische Gemeinde eine Bibliothek betreibt, ist auch in Zürich eigentlich eine unbestrittene Tatsache, das heisst eigentlich, sie war es bis vor kurzem. Denn wie in vielen jüdischen Gemeinden Europas, ja der ganzen Welt, muss auch im reichen Zürich gespart werden. Das hat in diesem speziellen Fall allerdings auch damit zu tun, dass sich die ICZ mit der umfangreichen Renovation ihres Gemeindehauses offenbar etwas übernommen hat. Das führt dazu, dass nun in allen Bereichen vermehrt nach Sparmöglichkeiten gesucht wurde und wird.

Gefunden haben wollen die nun einige Initianten eben auch bei der Bibliothek: diese würde nur von wenigen Menschen wirklich in Anspruch genommen und wäre bei einer grossen staatlichen Bibliothek, wie beispielsweise der der Universität angeschlossenen Zentralbibliothek (ZB), gut aufgehoben, bringt es beispielsweise das ehemalige ICZ-Vorstandsmitglied Edgar Abraham auf den Punkt. Eine staatliche Bibliothek wie die ZB werde nie finanzielle Probleme haben, findet Abraham. Ausserdem seien dort Zugänglichkeit und Öffnungszeiten deutlich benutzerfreundlicher als wenn die Bibliothek innerhalb einer jüdischen Gemeinde betrieben werde, die verstärkten Sicherheitsvorschriften und dem jüdischen Kalender mit Schabbat und relativ zahlreichen Feiertagen unterliege, so meint Edgar Abraham, der für die Gemeinde das Projekt begleitet.

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Die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich bewahrt einige sehr wertvolle Sammlungen auf. Sparmassnahmen gefährden ihren Fortbestand. Foto: Mit freundlicher Genehmigung Frédéric Weil, ICZ.

So einfach, wie das hier tönt, ist das Ganze allerdings nicht: allein die reine Absicht (von der nicht klar ist, wie viel Geld die Gemeinde wirklich sparen könnte) einer Ausgliederung hat nämlich inzwischen prominente Widersprecher auf den Plan gerufen: zuallererst den Zürcher Schriftsteller Charles Lewinsky („Mellnitz"), der zur Verhinderung der Ausgliederung der ICZ-Bibliothek sogar eigens einen Kultur-Verein gegründet hat.

Die Mitglieder dieses Vereins für jüdische Kultur und Wissenschaft (VJKW) verweisen vor allem einmal darauf, dass die 1939 gegründete ICZ-Bibliothek seit 2009 ein „nationales Kulturgut" der Schweiz ist. Das Problem dabei ist allerdings, dass dies zwar eine grosse Ehre, nicht aber mit Subventionen oder sonstigen Geldern verbunden ist.

Dem Verein schwebt deshalb ein Jüdisches Zentrum für Geistesgeschichte in der Limmatstadt vor; dessen Kern wäre die ICZ-Bibliothek. Das Zentrum könne inner- oder auch ausserhalb der Cultusgemeinde angesiedelt werden, gibt sich Charles Lewinsky betont offen. Das hänge auch damit zusammen, wie viel Geld der Verein in den nächsten Monaten für sein Anliegen sammeln könne. Denn das müsse das Ziel sein, findet Lewinsky, um auf Augenhöhe mit der Gemeinde über die Zukunft der Bibliothek diskutieren zu können. Und er sparte auch nicht mit Emotionen: an einer ICZ-Versammlung, an der die Gemeindemitglieder sich vor einigen Wochen zur Zukunft der Bibliothek äussern konnten, ohne dass eine definitive Entscheidung gefallen wäre, meinte der Schriftsteller unter grossem Applaus: „Wir sind schliesslich das Volk des Buches und nicht der Buchhaltung" - auch wenn das einige vielleicht anders sehen mögen.

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Blick in die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Foto: Mit freundlicher Genehmigung Frédéric Weil, ICZ.

Lewinsky und seine Getreuen können auch auf ein historisches Beispiel verweisen, das wohl Wasser auf ihre Mühlen ist: vor 100 Jahren bereits überliess die ICZ der ZB grosszügig als Geschenk die Sammlung Heidenheim, die Hebraica-Sammlung des Zürcher Privatdozenten Moritz Heidenheim, die mehr als 2600 wertvolle und überaus seltene Ausgaben rabbinischer und mittelalterlicher jüdischer Literatur enthält. Der aktuellen ICZ-Bibliothek soll also nicht das Gleiche passieren.

Teil dieser  Bibliothek, wenn auch nicht formell, ist auch die sogenannte Breslauer Bibliothek. Die Biographie dieser Breslauer Bibliothek ist noch geschichtsträchtiger als die der übrigen Bücher: es handelt sich hier um die ehemalige Sammlung des Breslauer Rabbinerseminars, das Teil des Jüdisch-Theologischen Seminars war und aus dem Nachlass von Jonas Fraenkel (1773-1846) hervorgegangen war. Als erster Leiter der Abteilung amtete der bekannte Heinrich Graetz (1817-1891).

Im November 1938 fiel diese Bibliothek rund um die Ereignisse der Reichspogromnacht der Zerstörungswut der Nazis zum Opfer. Allerdings nicht vollständig: von 30.000 Büchern blieben noch 11.000 übrig. Diese wurden nach Berlin gebracht, sie sollten im Rahmen des von den Nazis geplanten Museum einer ausgestorbenen Rasse in Prag ihren Bestimmungsort finden.

Daraus wurde glücklicherweise bekanntermassen nichts - und die Alliierten fanden 1945 zahlreiche Werke aus der Breslauer Bibliothek. Nur wenig später gründete sich ein Komitee zur jüdischen kulturellen Rekonstruktion (JCR); deren Sekretärin wurde keine Geringere als die Philosophin Hannah Arendt. Sie favorisierte eine Schweizer Bewerbung für einen Teil der Bücher aus der Breslauer Sammlung. Die Schweiz als ein vom Zweiten Weltkrieg verschonter Hort der Sicherheit, auch für wertvolle Bücher, fand Arendt. Überzeugungsarbeit leistete auch der langjährige ICZ-Rabbiner Zwi Taubes s.A., der in Wien beim JCR-Leiter Salo Baron studiert hatte. Allerdings erhielt die Schweiz schliesslich doch nur eine knappe Mehrheit der rund 11.000 Bücher, nämlich 6000. Die übrigen Bücher gingen nach Jerusalem und ans jüdisch-theologische Seminar in Cincinnati/Ohio (USA).

Der „Schweizer Teil" gibt über fünf Jahrhunderte, nämlich vom 16. bis ins 20., unter anderem einen Einblick in die Arbeit der Rabbiner: er enthält Erklärungen und Auslegungen, aber auch künstlerisch verzierte Ausgaben des Tanach und des Talmuds.

Dieser Schweizer Anteil an der Breslauer Bibliothek, der nur noch in Zürich und Genf lagert (der Basler Teil wurde vor einigen Jahren in  Zürich integriert), gehört eigentlich dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und gar nicht der ICZ. Aber gerade darum schaut man beim SIG genau hin, was mit der ICZ-Bibliothek geschehen wird. Ob der Gemeindebund dieses wertvolle Gut gemeinsam mit den ICZ-Büchern ebenfalls einem neuen Besitzer überlassen würde, lässt er ausdrücklich offen. Die SIG-Kulturbeauftragte Francine Brunschwig sagt, beim Gemeindebund wolle man zuerst wissen, was mit der Bibliothek passiere, bevor man dann entscheide.